Theater der Zeit

Magazin

Marke Müller

Eine Studie zu Heiner Müllers Branding-Strategien im Kulturbetrieb

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Perspektiven der Volksbühne – Viktor Jerofejews Putin-Stück: Der Große Gopnik (05/2024)

Assoziationen: Buchrezensionen Heiner Müller

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Während die Theater im Moment nicht gerade fantasiereich sind, neue Ansätze zu Müllers Werk zu entwickeln, findet die Forschung zu diesem Autor immer wieder Möglichkeiten, das Feld zu erweitern. Müllers Interviews etwa waren schon mehrere Studien gewidmet wie eben auch Biografik und Werkdeutung seit längerem verschränkt sind. Nun legt Jens Pohlmann mit „The ­Creation of an Avant-Garde Brand“ eine auf seiner Dissertation fußende Untersuchung von „Heiner Müller’s Self-Presentation in the German Public Sphere“ vor. Für die 1980er beschränkt sich das auf die Bundesrepublik, danach verbleiben nur noch die wenigen Jahre bis zum Tod Ende 1995 mit um so vermehrten öffentlichen Auftritten im ver­einigten Deutschland.

Pohlmann, der zu Frank Hörnigks ­Stu­­denten an der Berliner Humboldt-Uni­versi­tät gehörte und so schon früh mit Spezial­aspekten der Müller-Forschung in Berührung kam, lehrt heute an der kalifornischen Stanford University und war zuvor an der Universität Bremen an einem Projekt digitaler Forschungsmethoden in den Geisteswissenschaften beteiligt. All das ist erkennbar in dieses Buch mit eingegangen, das neben statistischen Grafiken zu Interviewpartnern und Kurven für Aufführungszahlen ein Paradox des immer noch geltenden Müller-Bilds zu erhellen versteht: Nämlich, dass der avantgardistische Autor mit seiner Kapitalismuskritik nicht nur Preisverleihungsgesellschaften verstörte, sondern auch zum begehrten Personal von Boulevardmedien werden konnte. Die BILD-Zeitung interessierte sich zeitweise für Müller auf ihre Weise, und in die ersten „Harald-Schmidt-Shows“ wurde er als im Backstage-Bereich schweigend zustimmen­der Gutachter reinmontiert, sodass selbst ein Rainald Goetz glaubte (oder behauptete), das hätte er in echt erlebt.

Die Frage, wie ein mit avantgardistischen Ästhetiken operierender Autor und Theatermacher die Sphäre der Massenkultur erreicht und in dieser eventuell wirkt, gleicht heute der popkulturellen Frage, wie man sich im Mainstream ohne den Verlust von Coolness und Authentizität behauptet. In dem weiten wissenschaftlichen Feld, das Pohlmann u. a. mit Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Buch „The New Spirit of Capitalism“ (2007) aufmacht, gilt das Interesse beispielsweise Müllers „Bildbeschreibung“ als Widerstand gegen marktgerechte Kommunikation und auch politische Heraus­forderung des Kulturbetriebs. Das wird dann in der exzellenten Fallstudie zur Büchner-Preisrede „Die Wunde Woyzeck“ (1985) ausführlich dargestellt, mit der Müller bei der Entgegennahme des Preises das Ritual des renommiertesten (west)deutschen Lite­raturpreises zugleich bedient und unterläuft. Die Rede ist kurz, in der für Müller typischen Montagetechnik gedrängt und so in ihrer referenzreichen Komplexität gar nicht für den Vortrag bei einer solchen Feier geeignet. „Wenigstens eine Rede hätte er halten können“, soll sich ein älteres Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung beschwert haben, berichtet Müller genau ein Jahr später im Gespräch mit Erich Fried (eine Pointe mit Bedeutung, die sich Pohlmann entgehen lässt). Die Rede enthält aber auch von Müller formulierte Positionen (Ulrike Meinhof als Woyzecks Schwester, die Mauer als Denkmal für Rosa Luxemburg), die für die Preisgeber kaum akzeptabel gewesen sein dürften. So habe Müller mit seiner Büchner-Preis­rede, die heute zu den wichtigsten Schriften des ­Autors gehört, eine kritische Balance geschaffen, die wesentlich („a milestone“) zu seiner „brand recognition“ mit Wahrung ­seiner Avantgarde-­Aura im Kulturbetrieb beigetragen hat.

Jens Pohlmann: The Creation of an Avant-Garde Brand. Heiner Müller’s Self-Presentation in the German Public, Peter Lang 2023, 198 S., Gedruckte Ausgabe € 59,95 / PDF-Download € 72,49

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