Tanz als wortloses Esperanto
Wie Migration und kulturelle Vielfalt den zeitgenössischen Tanz prägen
Erschienen in: Recherchen 27: Tanz Körper Politik – Texte zur zeitgenössischen Tanzgeschichte (10/2012)
Wenn wir von dem europäischen Tanz der Moderne als einem kulturellen Bedeutungssystem ausgehen, dann ist damit zunächst der Bühnentanz gemeint. Tanz in diesem Sinne kann als eine Kunstgeschichte des Körpers verstanden werden, die Zivilisations- und Sozialisierungsprozesse auf einer artifiziellen Ebene repräsentiert.
Soziale Entwicklung und Tanzkultur bilden kein kohärentes Interpretationssystem, sondern eine verflochtene Ordnung aus Verschiebungen, die nicht zuletzt auf kultureller Migration basiert. Migration kann das Wandern von Formen bedeuten und das Wandern von Menschen, die ihre Kultur in eine andere Gesellschaft einbringen. Exotismus und Imperialismus sind die dominierenden europäischen Reaktionsweisen bis in die Gegenwart hinein, um mit dem jeweils Anderen umzugehen. Ihre theoretischen Grundlagen sind die Idee des Nationalstaats und die Evolutionstheorie, Modelle der Abgrenzung und Herrschaft. Heute entsteht daneben die Idee einer multikulturellen Gesellschaft auf der Basis einer weltweiten Migration. Ein hierarchisch organisiertes, vertikales Entwicklungsmodell erhält Konkurrenz durch ein horizontales Modell, in dem alle Kulturen nebeneinander existieren. Neben dem klassischen Ballett als einer in Europa entwickelten und weltweit praktizierten Bühnenform gewinnt der zeitgenössische Tanz immer mehr Bedeutung, der seine Aktualität aus der Entdeckung kultureller Identitäten und individueller Ausdrucksformen bezieht. Das konkrete Reagieren auf soziale und politische Zusammenhänge einer Stadt, die Verarbeitung kultureller, religiöser oder künstlerischer Traditionen einer Region oder...