Theater der Zeit

Auftritt

Berliner Ensemble: Umsturzphantasien mit KI

„RCE“ von Sibylle Berg, Regie Kay Voges, Bühne Daniel Roskamp, Kostüm Mona Ulrich, Musik Tommy Finke

von Tom Mustroph

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Dossier: Digitales Theater Kay Voges Sibylle Berg Berliner Ensemble

Ein pop-artiges KI-Revolte-Musical: Kay Voges inszeniert Sibylle Bergs Roman „RCE“ am Berliner Ensemble.
Ein pop-artiges KI-Revolte-Musical: Kay Voges inszeniert Sibylle Bergs Roman „RCE“ am Berliner Ensemble. Foto: Moritz Haase

Anzeige

Anzeige

Am Anfang gibt es eine vierte Wand mit Loch. Auf einer Projektionsfläche, die vom inzwischen trockenen Bühnenboden des Berliner Ensembles bis fast an die Decke reicht, streben Hochhausfassaden gen Himmel. Es handelt sich um Bilder jener Glas- und Stahlpaläste, die sich wie Geschwüre in die Megacities der Erde – und solche, die es werden wollen – fressen. Im Baugeschäft mit analogen Materialien sind noch Architekten dafür verantwortlich. Bei dieser Bühnenarbeit darf man davon ausgehen, dass es sich um Bild gewordene Halluzinationen künstlicher Intelligenzen handelt. Denn Regisseur Kay Voges hat gleich ein ganzes Dutzend Videokünstler:innen beschäftigt, die die Wand mit einem schier unendlichen Bilderstrom bespielen. Der besteht mal aus hyperrealistischen Aufnahmen von Städten und Arbeitsorten, von Massenkonsum und Volksaufständen, verwandelt sich aber auch ins Ornamentale und Abstrakte.

In die Wand ist ein sechseckiges Loch eingelassen. Es handelt sich um eine Wabe, in der sich nicht Bienen tummeln, sondern das über den halben Erdball verstreute Hacker:innen-Kollektiv, das in Sibylle Bergs dystopisch-revolutionärem Roman „RCE“ die digitale Infrastruktur des Planeten in einen Revolterausch treibt. Zum Glück sind Voges und Kostümbildnerin Mona Ulrich nicht der Idee verfallen, die Programmierernerds klischiert mit Hoodies, Mate-Flecken und Pizzaresten auszustatten. Vielmehr treten sie in schwarzem Anzug und Krawatte a la Blues Brothers auf; nur anstatt der schwarzen Hüte tragen sie ebenso schwarze Perücken. Das Quintett (Maximilian Diehle, Max Gindorff, Pauline Knof, Amelie Willberg und Paul Zichner) nimmt schnell das wabenartige Gebilde in der Bühnenwandmitte in Besitz. Ästhetisch nimmt es Anleihen bei frühen Raumschiff-Phantasien, etwa Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“.

In diesem retrofuturistischen Ambiente werden nun mal sprechend, mal gesungen Fetzen aus Bergs Untergangssuada vorgetragen. „Konsum“, „Kapital“ und „Digitalisierung“ lauten einige der bösen Schlagworte. Und natürlich hat Berg, und mit ihr die Spieler:innen, verflucht viel Recht. Auf Dauer aber ermüdet der Dystopiegesang. Und es ist schwer zu entscheiden, ob Voges und sein Komponist Tommy Finke gut daran getan haben, einzelne Zeilen mit Hilfe von Audio-KIs in sehr künstlich klingen Elektropop zu transformieren oder ob der Singsang das Einlullen nur noch befördert.

Immerhin kommt so eine gewisse Leichtigkeit ins schwere Thema. Und Erinnerungen an die „Dreigroschenoper“, vor knapp 100 Jahren am gleichen Hause uraufgeführt, kommen auf. Damals wie heute ging es um den anarchischen Spaß, mit alten Ideen und neuen Formen zu experimentieren, Genregrenzen zu überschreiten und kollektiv eine neue Kunstform zu schaffen, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzt.

Die digitale Revolte glückt auf der Bühne schließlich, auch dank einer RCE-Mobilisierungs-App, die Unzufriedene überall auf der Welt zum gemeinsamen Handeln treibt. App statt Partei ist echt zeitgenössisch gedacht, Lenin gewissermaßen mit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und Gaming-Guru Tim Sweeney (u.a. „Fortnite“) verknüpft.

So ganz traut Voges aber doch nicht der Revolution. Am Ende lässt er den Schauspielriesen Maximilian Diehle (2m Körpergröße) mit einem pinken Bärenkostüm auf die Bühne treten. Das könnte ein queerer Pandabär sein, gendermäßig weiterentwickeltes Symboltier chinesischer Expansionspiolitik, oder auch einer der Fancy Bears, jener russischen Hackerabteilung, die für zahlreiche Angriffe auf die digitale Infrastruktur des globalen Nordens bekannt wurde. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um den harmlosen Samson aus der Sesamstraße.

Voges‘ „RCE“-Musical lässt vieles in der Schwebe. Bergs Begeisterung an den revoltierenden Hacker:innen untergräbt er mit Zweifel. Ihre Mobilisierungsmethoden der Unzufriedenen erinnern doch sehr stark an Werbestrategien im kapitalistischen System und letztlich auch ans Fake News-Universum, das die extreme Rechte weltweit ziemlich clever nutzt. Und die neue Zukunft, die nach der Revolte aufgebaut werden soll, mit Bürgerbeteiligung und ohne Wachstumsdruck, klingt dann doch etwas naiv. Die Räterepublikaner vor etwas mehr als 100 Jahren in Sachsen, Thüringen und Bayern waren da theoretisch wie praktisch ein ganzes Stück weiter.

Den Zuschauenden indes gefällt es, sei es, dass ihre Lust am Aufstand groß ist, sei es auch, dass dieses Musical recht deutlich macht, dass Aufstände sich gar nicht lohnen, weil in ihnen der Keim für neue, und womöglich schlimmere Unterdrückung steckt. Ein Musical für alle also, Aufbegehrende wie Bewahrende. Das ist nicht wenig und zugleich ein guter Neustart für das vor kurzem noch durch den Blackout der Sprinkleranlage – Nerds?, Fancy Bear?, Systemversagen? – gebeutelte Theaterhaus.

Erschienen am 29.4.2024

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Das Ding mit dem Körper. Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater
Theaterregisseur Yair Shermann