Theater der Zeit

Auftritt

Staatstheater Stuttgart: Der „kleine Biomüll“ zieht in den Krieg

„Der Blick zurück“ von Dennis Kelly – Regie Selma Spahić, Bühnenbild Lili Anschütz, Kostüme Selena Orb, Musik Alen und Nemad Sinkauz

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Selma Spahić Schauspiel Stuttgart

In ihrer Inszenierung von Dennis Kellys „Der Weg zurück“ reflekiert die bosnische Regisseurin Selma Spahić eigene Kriegserfahrungen.
In ihrer Inszenierung von Dennis Kellys „Der Weg zurück“ reflekiert die bosnische Regisseurin Selma Spahić eigene Kriegserfahrungen.Foto: Björn Klein

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Die Liebe stirbt im Reagenzglas der Befruchtungsklinik. Ein Ehepaar will ein Kind, und das um jeden Preis. Doch da stößt die Wissenschaft an ihre Grenzen. Das Ritzen der Gebärmutter, das dem Embryo das Einnisten erleichtern soll, bringt die Mutter um. Hilflos muss der Mann zusehen, wie seine geliebte Frau verblutet. In Dennis Kellys „Der Weg zurück“ steht der Mann einsam in einem leeren Raum. Der Säugling ist ihm fremd. Die Erinnerung an die geliebte Frau raubt ihm den Verstand. Mit der Inszenierung der bosnischen Regisseurin Selma Spahić ist das Staatsschauspiel Stuttgart in die neue Saison gestartet. Die kulturpessimistische Dystopie, die der britische Autor 2019 schrieb, setzt die 1986 geborene Regisseurin als düsteres Endzeit-Szenario um.

Der subtile Humor, mit dem der Brite seinem vielschichtigen Text unterlegt, geht in dieser Lesart unter. „Unseren kleinen Biomüll“ nennt die Schwangere ihr Kind, das künstlich gezeugt worden ist. Solcher Galgenhumor interessiert Selma Spahić nicht. Ebenso wenig zelebriert sie Kellys Kunst der Satire. Ihr Zugriff ist direkt, klar und ohne Schnörkel: Die Regisseurin hebt die dunklen Töne hervor. Sie spielt die Tragödie eines auf die Spitze getriebenen Fortschritts aus. Ihre Theatersprache fokussiert die Radikalisierung, die eine Gesellschaft über die Generationen hinweg erfasst. Dennis Kellys Gedankenexperiment, das im Winter 2021 in der Regie von David Bösch am Berliner Ensemble uraufgeführt wurde, entwickelt die Regisseurin überzeugend. Wegen der Corona-Pandemie lag das Stück fast zwei Jahre in der Schublade. Nach der Premiere haben viele Häuser den Zeitgeist-Stoff nachgespielt.  

Grautöne dominieren den offenen Bühnenraum von Lili Anschütz. Klug zeichnet das Regieteam den Weg von vier Generationen in die Regression nach. Einsam steht David Müller als verwitweter Vater mit dem hilflosen Bündel vor dem fahlen Vorhang. Zwischen Schmerz und Hoffnung entwirft der Schauspieler ein großes Bild seiner Figur. Aus den Augen des Mannes, der seine ganze Existenz der Hoffnung auf das neue Leben geopfert hat, spricht Schmerz. Was Menschen dazu treibt, den Glauben an den Fortschritt zu verlieren, vermittelt der Schauspieler überzeugend. So wird er zum Vordenker einer Bewegung, die sich Die Regression nennt.

Die Reise durch die Generationen hat Spahić in einem eineinhalbstündigen Theaterabend verdichtet. Dawn nennt der Vater sein Kind, was übersetzt Morgenröte bedeutet. Doch die junge Frau wächst zu einer Kämpferin gegen den Fortschritt heran. Celina Rongen legt ihre Rolle vielschichtig an: „Unser Ziel ist nicht weniger, als den Fortschritt der Geschichte aufzuhalten.“ Doch die zweifelnden Blicke, die Rongen dem Text grandios entgegensetzt, lassen dieses vermeintlich große Ziel fragwürdig erscheinen. In dem jungen Fanatiker Jonathan findet sie einen Mitstreiter, der keine Fragen stellt. Felix Jordan zeichnet seinen Weg in die Gewalt sensibel nach. Dennoch reift in ihm das zarte Pflänzchen einer großen Liebe zu Dawn, das im Kampf gegen den Fortschritt gnadenlos zertrampelt wird. Jedes zarte Gefühl erstickt diese junge Frau. Mit ihren Mitstreitern zündet sie Universitäten an, zerstört Forschungslabore und verschafft sich über die Medien eine zweifelhafte Öffentlichkeit.

Chronologisch locker reiht Kelly die Szenen aneinander. Dawns Nachkommen sind Zwillinge, die längst im Zeitalter der Regression angekommen sind. Dazu füllt Lili Anschütz den zuvor fast leeren Raum mit riesigen antiken Säulen. Mit grau-braunen Kampfanzügen (Kostüme: Selena Orb) liefern sich die Geschwister ein gnadenloses Gefecht. Valentin Richter als gleichgeschalteter Bruder neidet seiner Schwester die Liebe. Teresa Annina Korfmacher setzt dem Rückschritt, der sich in einer harten, kalten Befehls-Sprech offenbart, Worte der Leidenschaft entgegen. Die merzt ihr Bruder aus: „Sprache muss abgewickelt werden. Sprache und ihre Komplexität sind die Wurzel unserer Zerstörung als Spezies.“ Im Takt tanzen diese jungen Menschen in ihre eigene Zerstörung. Wie die Worte tötet der Junge am Ende seine eigene Schwester. Die Bühnenmusik von Aken und Nemad Sinkauz spiegelt den Prozess der Gleichschaltung. Allzu plakativ weckt die Regie da Assoziationen an diktatorische Regime des Ostens. Da reflektiert die 37-jährige Regisseurin ihre eigenen Kriegserfahrungen. Am Ende der Dystopie steht eine schreckliche neue Welt.

Als Nachgeborene der Zwillinge, genannt Dawn, die Zweite, setzt Camille Dombrowsky den Schluss, der die Dunkelheit hinter sich lässt. Ihr Kostüm ist mit Drähten gespickt. Wie ein Versuchstier irrt die junge Frau durch den Raum, sucht vergeblich nach einem Sinn. Die Sprache hat man ihrer Generation geraubt, ebenso wie die menschlichen Werte. Naiv blickt die Spielerin in eine Welt, die von einigen Mächtigen dominiert wird. Doch da ist die Liebe, die hat sie nicht verlernt. Dieses Fünkchen Hoffnung gibt Kellys Dystopie am Ende die Leichtigkeit zurück.

Erschienen am 21.9.2023

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