Theater der Zeit

Bericht

Vom Schlachthaus zur Diskurskabine

Die 15. Prager Quadriennale für Szenographie und Performance Design

von Thomas Irmer

Assoziationen: Kostüm und Bühne

Der Beitrag aus Zypern wurde mit der Goldenen TRIGA ausgezeichnet. Foto Cruz
Der Beitrag aus Zypern wurde mit der Goldenen TRIGA ausgezeichnetFoto: Cruz

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Hier hat man früher Tiere geschlachtet und Fleisch en gros verkauft. In den 1990ern wurde das weiträumige Areal im Norden Prags dann zum Holešovice-Markt, ein ganzes Viertel mit kleinen Straßen zwischen zahlreichen Gebäuden im frühen Industriezeitstil, die heute neben traditionellen Markthallen Klamottenläden von Vietnames:innen (Nachfahren von zu sozialistischen Zeiten rekrutierten Vertragsarbeitern), Cafés, Elektronikshops und vegane Restaurants beherbergen. Das Gelände mit Hipness-Faktor ist so riesig, dass immer noch gar nicht alles genutzt wird. Diese Lücke wurde nun für die Prager Quadriennale zum Hauptveranstaltungsort, denn der weltweit größten internationalen Ausstellung für Szenographie stand ihr angestammter Platz im nahegelegenen Industriepalast nicht zur Verfügung. Das Jugendstiljuwel wird gerade renoviert.

Für die PQ 23 bedeutete der neue Ort auch eine völlig veränderte Ausstellungsarchitektur. Denn wo der Industriepalast den Charakter von zwei großzügigen Messehallen für die einzelnen Pavillons aus den teilnehmenden Ländern bot, lassen die dafür ausgesuchten und viel kleineren Gebäude auf dem Markt eher den Eindruck einer fragmentierten und geradezu improvisierten Ausstellung entstehen. Ein fast unterschiedsloses Nebeneinander von dort auch sonst vorhandenen Einrichtungen wie Schuh- und Hutverkäufen und den Präsentationen aus insgesamt sechzig Ländern. Das sei so gewollt, ist aus der PQ-Leitung unter Markéta Fantová zu hören. Man könnte es im Sinne der 1967 gegründeten Quadriennale als einen Schritt in Richtung kunst-sozialer Barrierefreiheit interpretieren. Die Veranstaltung im Rang einer documenta der Szenografie soll so nicht nur professionelle Theaterschaffende, Szenograf:innen, Bühnenbildner:innen und Studierende anlocken, sondern auch Leute von außerhalb des Berufsfelds. Der Ausstellungsteil für letztere, der die PQ zusätzlich zu einem sehr begehrten Pilgerort für Studierende weltweit machte, wurde ins Freie verlegt und wirkte insgesamt wie die abgerockte Mach-bei-uns-was-Kreatives-Zone nach einem Festival. Das war vielleicht für die dort ausgestellten Student:innenprojekte nicht einfach, denn sie mussten wetterfest, kommunikativ und schnell zu erfassen sein, aber die Kernmarke PQ konnte das wenig berühren. Wobei auch die mit dem Wechsel bemerkenswerten Trends folgte.

Die lassen sich benennen als kollektiv, performativ, partizipativ und vor allem als nur für diese Schau geschaffene Aktion. Die Zeit des von einem oder einer einzigen Bühnenbildner:in gestalteten Länderpavillons mit der Zurschaustellung des eigenen szenografischen Könnens auf der Bühne –  dokumentiert in Modellen, Fotos und Videos –  ist wohl endgültig vorbei. In Prag zählt der Ausstellungsbeitrag als Unikat, das anderswo gar keine Funktion hätte. Insofern hat sich der documenta-Charakter der PQ noch gesteigert, und damit auch die Erweiterung des Begriffs Szenografie.

Ein Beispiel ist der Beitrag aus Chile. Das Kollektiv Complejo Conejo hat für „Memento Mori“ einen Stand aufgebaut, bei dem man sich beim Sterben fotografieren lassen kann, Das heißt: Man spielt seinen letzten Moment, vor allem mimisch, der dann mit einer altmodischen Sofortbildkamera aufgenommen wird. Das Bild wird dann an den Stand gehängt, versehen mit einem Formular, auf dem man den Ort des Sterbens und die Todesursache angeben muss. Da kann man auch aus „Freude am Leben“ irgendwo in Chile sterben wollen und kommt zwangsläufig mit mehreren Mitgliedern des Kollektivs ins Gespräch, die alle eine Art Batman-Maske tragen, allerdings eine mit niedlichen Hasenohren. Für den makabren Spaß waren immer lange Schlangen am Stand zu beobachten: Mitspielen ist einfach toll! Was mit der Galerie der Totenbilder geschieht, die der Stand am Ende ist, weiß man nicht.

Performativ –  und in seinem „danse macabre“-Stil durchaus eine Entsprechung zu Chile –  ist auch der Beitrag von Fredrik Floen aus Norwegen. Auf einem ca. sechs Meter hohen, pyramidenartigen Gebilde bewegen sich mehrere Performer:innen in extrem auffälligen Kostümen, die eigentlich so etwas wie Skulpturen am Körper sind. Sie wirken wie aus einem mittelalterlichen Totentanz, doch zugleich auch ganz modern. Die Pyramide ist übersät mit Kritzeleien und aufgehängten Zeichnungen. Man kann lange zuschauen, gespielt wurde mit zwei einander abwechselnden Besetzungen fast über die gesamte Ausstellungsdauer von immerhin elf Tagen. Das ist eigentlich durational performance in Extremkostüm, und man erfährt dann, nicht ganz überraschend, Fredrik Floen war mal Assistent bei Vinge/Müller, insbesondere bei ihrem legendären Berliner „Borkman“.        

Fast Theater im eigentlichen Sinn ist auch der Beitrag „winterreise.box“ von Botond Devich, der am Budapester István Örkény Theater mit Jakob Tamóczi als Regisseur eine Inszenierung von Schuberts Liederzyklus herausbrachte, die hier als Bühnenraum mit Videoinstallation zu erleben ist: Die Filmbilder des Sänger-Schauspielers Máté Borsi-Balogh sind an den Außenwänden der Box zu erleben, während das Innere das karge Interieur eines Zimmers mit leerem Kühlschrank und einem dahinter in die Wand gerissenen Loch zeigt: Einsamkeit.

Gesellig, aber dabei hochgradig politisch ging es indes am Stand von Serbien zu. Das „Moonshine Piano“ ist auf den ersten Blick ein zu einer kleinen Schnapsbrennanlage umgebautes Klavier. Obstler wird den Besuchern auch angeboten, vor allem, um sie zu Rollenspiel-Diskussionen zu animieren, bei denen es dann zum Beispiel um korrupte Stadtplanung anhand des Waterfront-Projekts in Belgrad geht. Hier ist die Erweiterung des Begriffs Szenografie also das Sprungbrett in politische Diskussionen.

Realität als imaginäre Szenografie, dafür gab es den Hauptpreis Goldene Triga, der an den Beitrag aus Zypern ging. Eigentlich sieht man nur ein paar nachgebaute Beobachtungsplattformen, wie es sie auch im alten West-Berlin für den Blick in den Osten gab. Die Installation gilt dem geteilten Zypern, wo griechische Zypriot:innen in die türkisch besetzte Stadt Famagusta nur noch von diesen Aussichtsposten vor der grünen Zone schauen können: die unerreichbare Stadt als politische Szenografie.

Der andere Hauptpreisträger (Preis der Jury) ist Frankreich mit einer imposanten Sandskulptur, in der sich zerbrochene Rohre einer Kanalisation und ähnliches erkennen lassen. Die in den Sand versinkende Stadt – hier beeindruckt vor allem die Materialität und die schiere Größe der Arbeit.

Es gab erstaunlicherweise erstmals keine Beteiligung der deutschsprachigen Länder, die in der Geschichte der PQ häufig ausgezeichnet wurden. Ein Skandal, hinter dem im Fall Deutschland große strukturelle und finanzielle Probleme verantwortlich zu machen ist. Der Bund der Szenografen ist für eine eigenständige Beteiligung zu arm. Das ITI Germany, das gerade auch Theater der Welt stemmt, kann es auch nicht, wie die nationalen Theaterinstitute anderer Länder, allein finanzieren. Dazu kämen die Berufung von Kuratore:innen und ein wohl nach deutschen Maßstäben gültiges Auswahlverfahren usw. Aber als große Theaterkultur(en) hier einfach zu fehlen, das ist eine Schande. Eine Umfrage unter PQ-Veranstalter:innen, die sich dazu nur vorsichtig äußern wollten, ergab die Meinung, die weltberühmten Bühnenbildner:innen aus Deutschland, die immerhin mit Büchern über ihr Schaffen im Buchladen der PQ vertreten sind, hätten kein Interesse an Prag. Das klang nur ganz leicht beleidigt.

 

Erschienen am 19.6.2023

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