Theater der Zeit

Partizipation als Prinzip, Theater als Projekt und Vision als Mission

Vorwort des Herausgebers

von Wolfgang Schneider

Erschienen in: Poesie, Heimat und Politik – Theater Willy Praml (05/2024)

Theaterspektakel (1980)
Theaterspektakel (1980)Foto: Manfred Horz

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„Ich war nie in einem Theaterbetrieb, ich war immer frei“, bekundet der Theatermacher Willy Praml. In Frankfurt am Main verankert, behauptet er mit seiner künstlerischen Arbeit ein selbstbestimmtes und politisches Theater. Seit den 1970er Jahren erregte Praml Aufsehen durch die Erprobung neuer theatralen Formen mit Lehrlingen, im ländlichen Raum und mit dem Faust in der Frankfurter Paulskirche. Nachdem sein Theaterkollektiv 1991 in einem Industriedenkmal in der Main-Metropole, der Naxoshalle, seine Heimat fand, inszeniert das Theater Willy Praml dort Gesamtkunstwerke, literarisch sowie musikalisch und immer wieder auch interkulturell mit Geflüchteten. Mittlerweile ist aus dem Provisorium ein Produktions­­haus geworden. Im Studio Naxos arbeiten Künstlerinnen und Künstler aus der freien Szene; Kino und Konzerte gehören ebenso zum Programm. Damit prägt das Theater Willy Praml die kommunale Theaterlandschaft, die mit Mitteln des städtischen Haushaltes gefördert wird.

Die Förderung von Infrastruktur der Darstellenden Künste in Deutschland ist eine der historisch gewachsenen Schwerpunkte der Kulturpolitik von Kommunen, aber auch der Länder. Viele hundert ­Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen sowie Orchester, Privattheater und Festspiele werden vom Deutschen Bühnenverein ver­treten. Der Bundesverband Freie Darstellende Künste vertritt die Interessen von fast zweitausend freien Theatern, der Bund Deutscher Amateurtheater nennt mehr als zweitausend Mitgliedsbühnen. Die Enquête-­Kommission „Kultur in Deutsch­land“ des Deutschen Bundestages spricht deshalb zurecht von einer Theaterlandschaft, „welche an Formen, Traditionen und Anzahl weltweit einzigartig ist“1. Doch trotz aller Superlative scheint der kultur­politische Status nicht hinreichend gesichert zu sein, immer wieder gibt es Auseinandersetzung um die Finanzierung, gelegentlich auch um die Strukturen, allzu wenig um die Diskurse von Perspektiven.

Nach 1968 gab es in Europa eine Zeit, die war reif für innovative Produktionen der Darstellenden Künste und die Stunde schlug für Projekte, die zwar an einem Ort mit Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa entstanden, aber nur finanziell möglich waren, weil die Distribution in ganz Europa verabredet war. So entstanden neben den städtischen und staatlichen Häusern Produktionszentren. Die Künstler- oder Theaterhäuser sind nicht mit den Tankern der großen Bühnen vergleichbar, ihre Struktur unterscheidet sich von den großen Apparaten, sie sind durch Flexibilität gekennzeichnet und passen sich den Produktionsbedingungen an, die die Projektbeteiligten brauchen. Das Theaterhaus wird somit auch zum Modell des modernen Stadttheaters, ist beispielhaft für eine zukünftige Theaterlandschaft und versteht sich als interdisziplinäres, interaktives und integratives Zentrum der Theaterschaffenden. Es integriert Produktion, ­Distribution und Rezeption, es versteht sich als ­Experimentierbühne, Forschungsanstalt und Laboratorium für neue Spielweisen.

Diese Entwicklung verstand sich durchaus auch als Gegenmodell zum deutschen Stadt- und Staatstheater, dem auch die Schuld an den permanenten inhaltlichen, ästhetischen und vor allem finanziellen Krisen gegeben wurde, weil sie allzu gerne nur auf die Perpetuierung ihres eigenen Jahrhunderte alte Systems beharren. Die Stadt- und Staatstheater haben es nicht geschafft, sich in der Kulturpolitik und Kommunalpolitik so zu verankern, dass sie erst gar nicht zur Disposition gestellt werden. Wenn sie sich geöffnet haben, dann eigentlich nur in Form einzelner Projekte. Wenn sich etwas geändert hat, dann eigentlich nur durch einzelne künstlerische Persönlichkeiten, die hier und da die Zeichen der Zeit erkannt haben. Aber es ist nichts Strukturelles passiert, bei dem man sagen könnte, dass es eine Perspektive für das Überleben der Theaterkunst wäre.

Das gilt auch für das, was auf der Bühne verhandelt wird. Die Frage ist, ob es etwas mit dem System zu tun hat, wenn das Miteinander propagiert wird, während das Gegeneinander für die Darstellung auf der Bühne viel interessanter ist. Und wie verhält es sich mit der viel beschworenen Begegnung auf Augenhöhe? Das Stadttheater „da oben“ und die freien Theater „da unten“? Müsste die Vielfalt der Theaterpraxis nicht im Mittelpunkt der Kulturpolitik stehen und eben nicht das Gegeneinander von institutioneller und unabhängiger Theaterarbeit? Das gilt auch für die Frage, mit wem wir es heutzutage rund um die Bühne zu tun haben. Wer ist denn das potenzielle Publikum? Städte und Regionen leben in Zeiten der Globalisierung von ihren kulturellen Identitäten. Und wir müssen wahrnehmen, dass zum Beispiel in der Schulvorstellung des Kindertheaters mehr als 50 Prozent Kinder sitzen, die Migrationshintergrund haben. Die sitzen entweder in zehn Jahren weiterhin im Theater oder sie gehen dem Theater verloren. Diese Perspektive ist längst ein existenzielles Thema für das Theater. Die oben bereits zitierte Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat in einem einleitenden Kapitel die Rolle von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft eindrucksvoll bekräftigt.

Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und vor allem erlebt werden können, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden ­Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken die Künste weit über die Sphäre der künstlerischen Kommunikation in die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung. Und deshalb bedarf es einer Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht und daher Kunst und Kultur ermöglicht, verteidigt und ­mitgestaltet.2


Kultur für alle als kulturpolitische Aufgabe

In Frankfurt am Main hat Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik spätestens mit der Ära des Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann Tradition. Seine Schrift „Kultur für alle“ war ein einziges Plädoyer für eine barrierefreie Kulturlandschaft. Es ging um Zugangsmöglichkeiten, dezentrale Orte und eine Vielfalt des Angebots. Diese kulturpolitische Idee hat 2012 das städtische Kulturamt wieder aufgenommen und eine Perspektivkommission zur Evaluierung der Freien Theaterszene eingesetzt. Im Abschlussbericht heißt es unter anderem: „Die Frankfurter Freie Szene ist geprägt durch eine starke Alterung ihrer Protagonisten wie auch ihres Publikums. Dies gilt grundsätzlich zunächst für alle Sparten.“3 Die Handlungsempfehlung des Kulturamts:

Wichtigstes Ziel bei der Veränderung der Strukturen der Freien Szene in Frankfurt müssen offene Rahmenbedingungen sein, die es erlauben, Projekte zu ­realisieren, die anderswo nicht möglich sind – sei es thematisch, sei es in der Art und Weise, wie oder an welchem Ort eine Aufführung entstehen soll. Denn nach wie vor – und erst recht in einer Stadt wie Frankfurt – ist es Aufgabe des Freien Theaters, Produktionen zu realisieren, die sich grundlegend von dem unterscheiden, was das Stadttheater auf die Bühne bringt. Die Stichworte dazu sind: Zeitgenössische Lesarten, gesellschaftliche Relevanz, prozessorientiertes Arbeiten, Erprobung neuer Formen und Formate. Diese Aufgaben hat die Freie Szene in Frankfurt all-zu lange vernachlässigt. Die Gründe dafür liegen sowohl im Ästhetischen, in der Struktur der Freien Szene wie in der Förderpolitik.4


Die Evaluation führte zu heftigen Auseinandersetzungen unter den Beteiligten der Theaterkunst. Und hier kommen Willy Praml und sein Ensemble ins Spiel. Nach den Jahrzehnten ohne Haus und zwei Jahrzehnten in der Naxoshalle werden die permanenten Prozesse der Selbstreflexion wieder aufgegriffen und strukturelle Veränderungen angegangen. Und eben das hat auch Tradition. Mit dem Lehrlingstheater haben Willy Praml und seine Mitstreitenden die gesellschaftspolitische Grundlage geschaffen, mit dem Dorftheater wurde die Partizipation zum Prinzip erklärt, in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten konnten neue Formate entwickelt werden, mit der Bearbeitung von Stoffen aus der klassischen Literatur wurde die Gegenwart untersucht, mit den umfänglichen Projekten im öffentlichen Raum entstanden theatrale Ereignisse für alle Generationen, mit der Etablierung des Studio Naxos als Konsequenz aus der Evaluation sollten neue Impulse und Perspektiven möglich gemacht werden.

Künstlerische Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit

Das Theater Willy Praml ist dementsprechend ein Modell der deutschen Theaterlandschaft, das seit mehr als fünfzig Jahre die permanente künstlerische Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit pflegt. Die Autorinnen und Autoren aus Feuilleton und Wissenschaft analysieren und reflektieren in dieser Publikation also über fünfzig Jahre einer Theatergeschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit.

Professorin für Theorie und Praxis ästhetischer Bildung Hanne Seitz beschäftigt sich mit den Anfängen eines Lehrlingstheaters an der Hessischen Jugendbildungsstätte Dietzenbach und beschreibt die Kreationen Willy Pramls mit jugendlichen Laien als Kunst des Handelns auf der Bühne – zwischen Pädagogik und Politik.

Die Erziehungswissenschaftlerin und Hochschullehrerin Kristin Westphal widmet sich der kulturellen Bildung in ländlichen Räumen und erörtert – auch aus eigener Anschauung – das Dorf-Theater unter der Regie von Willy Praml als Ort des Erinnerns und der Wahr­­neh­­mung des Politischen, das als künstlerische Heraus­forderung schon früh Akzente späterer „Bürgerbühnen“ zu setzen weiß.

Der Kulturjournalist und Verlagslektor Matthias Bischoff fokussiert seinen Beitrag auf Theaterprojekte mit Migrantinnen und Migranten und Geflüchteten, wie sie seit Anbeginn des Theater Willy Praml zum Repertoire gehören und markiert als künstlerische Besonderheit die Konfrontation der Laien migrantischer Herkunft mit den im deutschen Kanon verankerten Stoffen und Mythen.

Die Kulturmanagerin und Kuratorin Julia Cloot befasst sich mit dem Verhältnis von Kunst und dem Raum, in dem sie sich ereignet, und erkennt in jene Produk­­­­­­­­­­­­­tio­­­­nen des Theater Willy Praml, die an sogenannten Un-Orten stattfinden, die ästhetisch interessantesten Relationen im Gefüge von Konzeption, Kunstschaffenden und Publikum. Sie seien multi­­perspektivische Erzählungen und Wanderungen zwischen den Welten.

Die Feuilleton-Redakteurin der Frankfurter Rundschau Judith von Sternburg betrachtet die Literatur des Theater Willy Praml und seziert den Umgang mit Texten von Goethe und Kleist, von Hölderlin und Heine, aus der Bibel und aus der Antike, von dem aus sich Schlussfolgerungen für das gesellschaftliche Verständnis des Theaters insgesamt ziehen lassen.

Die Leiterin des Kulturressorts der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Eva-Maria Magel interessiert sich für die jüngste Entwicklung des Theater Willy Praml als Teil des Produktionshauses Naxos,

durch das neue künstlerische Handschriften ausprobiert werden können, Kino und Konzerte neue Publika erreichen.

Mein Prolog mit Be- und Zuschreibungen zu Prinzipal und Kollektiv versteht sich hierbei als ein Einstieg in den Mini Mundus der Weltbeobachtungen, -erklärungen und -visionen, unter Verwendung von Dokumenten zum 30-jährigen Jubiläum des Theater Willy Praml und 80. Geburtstag von Willy Praml. Diese Publikation trägt auch deshalb den Titel „Poesie, Heimat und Politik“, weil man die fünf Jahrzehnte Theaterarbeit, die es zu dokumentieren galt, nicht auf einen Nenner bringen kann. Von Anfang war der literarisch gebildete Willy Praml an Texten aristotelischer Poetik, als Drama, Epos und Lyrik interessiert, meinte aber immer auch die poetische Wirkung von Texten, die über die Alltagssprache hinausgehe und eine neue Qualität des Sprechens, Hörens und Sehens impliziere.

Poesie, Heimat und Politik

Verbunden war das Künstlerische in all den Jahren immer wieder mit dem nicht unumstrittenen Begriff von Heimat. Heimat – der Begriff war lange Zeit zu Recht verpönt. Die Faschisten benutzten ihn einst für ihre Blut- und Bodenideologie, die neuen Nationalisten positionieren sich damit in rassistischer Abgrenzung vom Fremden. Heimat-Filme und Heimat-Romane wollten heile Welt vorgaukeln. Heimat-Museen haben ein eher verstaubtes Image, Heimat-Kunde wurde wegen der allzu einseitigen Orientierung an Landidylle im schulischen Curriculum zumindest in der alten Bundesrepublik durch den Sachunterricht abgelöst. Im Grunde genommen ist Heimat aber eine durchaus wichtige Kategorie kultureller Identität, oder wie die Soziologie formuliert: Heimat ist Lebensmöglichkeit. Der Volkskundler Hermann Bausinger hat es konkretisiert: Heimat sei da, wo man Sicherheit und Verlässlichkeit erfahren darf. Und ist das nicht, was wirklich zählt, was auch Theaterkunst antreibt, die Gestaltung eines gelingenden Lebens zu imaginieren?5

Und das führt unweigerlich zur Politik, die im Kleinen wie im Großen wirkt. Willy Praml hat sich ebenso wie das nach ihm benannte Kollektiv als politisches Theater verstanden. Auch wenn es gelegentlich wie ein kleines Stadttheater zu sein scheint, zählen sich die Akteure zu den freien Darstellenden Künsten. Und sie mischen sich ein, in Diskurse der Stadt, auf dem Lande und zu weltweiten Phänomenen. Insbesondere Willy Praml hat es immer wieder gezeigt, wie wichtig ihm als Theatermann die Errungenschaften der Demokratie sind, die es zu verteidigen gelte und die man nicht nur den Parteien überlassen sollte. Das Theater Willy Praml hat sich auf, vor und hinter der Bühne als Zivilgesellschaft verstanden, die sich positioniert: gegen Krieg und für Frieden, für Geflüchtete und Asyl, für Bildung und Kultur, für Menschenrechte und Gleichberechtigung, gelegentlich auch für Personen der Politik, wie letztens mit einem Aufruf von Willy Praml für Mike Josef im Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters von Frankfurt am Main, mit einer klaren Botschaft zur Stärkung von Kulturpolitik und Kunstförderung.

Theaterkunst als Kulturelle Bildung

Die Herausgabe des Buches basiert auch auf persönlicher Inaugenscheinnahme des künstlerischen Arbeitens von Willy Praml. Tatsächlich kreuzten sich unsere Wege in all den Jahren an unterschiedlichen Orten. Und ich durfte zusehen und zuhören, konnte mich mit dem Kollektiv des Theater Willy Praml über Kulturelle Bildung und Kulturpolitik austauschen. An fünf Stationen kann ich mich erinnern und sie markieren relevante Phasen der Theaterarbeit von Willy Praml.

Berlin 1979: Hansjörg Maier vom Wannseeheim für Jugendbildung und Willy Praml von der Hessischen Jugendbildungsstätte erhalten den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. Und beide beginnen programmatisch und freuen sich, „dass nach dem ‚kommunistischen‘ Grips- und dem ‚Sauereien‘-Theater Rote Grütze mit dieser Auszeichnung ein Theater hervorgehoben wird, das es in der offiziellen Kultur, auch nicht im Kinder- und Jugendtheater gibt; und weil diese Arbeit selbst in dem Rahmen, in dem sie entstanden und entwickelt wurde, keine Selbstverständlichkeit ist.“6 Damals war ich als Student am Institut für Jugendbuchforschung mit meinem späteren Doktorvater Professor Dr. Klaus Doderer auf Exkursion in West-Berlin. Und konnte erfahren, wie Theater für Jugendliche als Theater mit Jugendlichen entsteht:

Als wir diese Arbeit begannen, hatten wir eine Art von Dokumentartheater im Sinn, also das Sammeln und Verarbeiten von sogenannten Fakten. Damit waren aber nicht irgendwelche Recherchen vor Ort gemeint, wie das etwa ein Reporter, nicht aber ein Betroffener machen würde. Wir haben uns vielmehr auch für uns damals verblüffend wirkungsvoll auf die Verarbeitung von Erlebnissen in den Köpfen verlassen. Es hat sich herausgestellt, dass wir mit dem Konzept, die Leute zum Reden zu bringen, uns im Zentrum der praktischen Politischen Bildung befanden. Denn in denen sind nicht nur nach Art eines Fotoalbums mehr oder weniger sortierte Erlebnisse, in denen werden Konflikte des Alltags verarbeitet, damals wie heute wesentlich bestimmt durch ökonomische Bedingungen. Und in den Köpfen bilden sich Interessen, die vertreten werden müssen und zu Konflikten führen. Diese Interessenvertretung wollten wir stärken. Nicht nach der Art irgendeines Geheimbundes, sondern durch Öffentlichkeit.7


Herne 1992: Willy Praml spricht auf einer Tagung zum Thema „Theater und Jugendschutz“. Zusammen mit dem Bundesverband Freier Theater hatte ich ihn als Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland eingeladen, seine Theaterkunst im Dienst sozialen Engagements zu reflektieren. Er berichtet von seinen Projekten und endet mit einer eher selbstkritischen Einschätzung, die auch die zahlreichen Teilnehmenden überrascht:

Meines Erachtens werden an das Theater immer wieder falsche Erwartungen oder falsche Ansprüche herangetragen, sei es von der Pädagogik, oder von der Politik. Ich denke, das Theater wird in der Politik oder in der Pädagogik immer dadurch, dass es nur als Instrument genommen wird, verharmlost, einfach außer Kraft gesetzt. Das Theater funktioniert aber nur darüber, dass man Theater macht, und im Entstehungsprozess entstehen dann 1000 andere Sachen, mit denen sich jeder beschäftigen und auseinandersetzen muss, die aber nicht das eigentliche Ziel der Theaterarbeit sind, sondern Nebenprodukt. (…) Meinen Erfahrungen zufolge ist es so, dass man eher die Jugendlichen vorm Theater beschützen muss! (…) Das Gefährliche am Theater ist, dass man, wenn man sich auf es einlässt, einer Verführung erliegt (…) und auf einen Weg gebracht wird, der sogar asozial werden lässt.8

Frankfurt am Main 2002: Willy Praml wurde nach Schließung der Jugendbildungsstätte in Dietzenbach an die Fachhochschule Frankfurt am Main versetzt und wirkt dort als Professor für Theater- und Kulturarbeit. Er verstand es, die Lehre mit seinen Projekten zu verbinden. Abschluss und Höhepunkt bildeten, was nicht anders zu erwarten war, theatrale Großveranstaltungen. Kommen und Gehen inszenierte er mit 120 Mitwirkenden. In einem panoramahaften Bilderbogen wird die Geschichte des Neubaus der FH nachgezeichnet und durch die Menschen im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, denen er zur Verfügung gestellt wird, nach und nach in Beschlag genommen.

Ähnlich wie bei Peter Handkes Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, in dem ein Platz im Mittelpunkt des Geschehens steht, ist es bei Kommen und Gehen das weitläufige Foyer des Neubaus. Menschen kommen und gehen, Menschen, die sich vorher nie begegnet sind. Die Inszenierung zeigt szenische Umsetzungen von Alltagsfacetten des Lebens mit dem Ziel, möglichst viele Studierende mit einzubeziehen. Und auch das fiel vielen als etwas Besonderes auf, als künstlerische Aneignung einer ansonsten eher pragmatischen Architektur, die ja nur dann lebendig wird, wenn sie von Menschen auch gestaltend genutzt wird.

So wird ihm am 20. November 2006 auch der Innovationspreis für besondere Leistungen bei der Entwicklung der FH und der Umsetzung des Leitbildes verliehen. Die Vorsitzende des Fördervereins übergibt die mit 1.500 Euro dotierte Auszeichnung an Willy Praml. Willy Praml erhält den Preis für seine Arbeit am kulturellen Profil der Fachhochschule, weil er dazu beigetragen habe, den Anspruch, nicht nur eine Ausbildungs- und Forschungsstätte zu sein, sondern auch ein Ort, an dem sich Campuskultur entfaltet, mit künstlerischen Mitteln umzusetzen. Willy Praml habe viel zur öffentlichen Wahrnehmung der FH als Theaterort beigetragen und mehrere Theaterprojekte – darunter auch internationale Koproduktionen – inszeniert, die über die Hochschule hinaus auf ein interessiertes Publikum stießen. Beispielsweise mit Und die Liebe höret nimmer auf nach Motiven von Ödön von Horváth oder Der Kampf des Negers und der Hunde nach Bernard-Marie Koltès im Rahmen eines deutsch-marokkanischen Theaters.

Frankfurt am Main 2012: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint ein Beitrag unter den Titel „Wenn nichts so natürlich ist wie das Theater­leben“ von Claudia Schülke. Es geht um die Kinder von Willy Praml, die Geschwister Joanna und Gregor, die von sich selbst sagen: „Das echte Leben haben wir mit unserer Mutter geführt, aber sie hat uns ans Theater verloren“9. Sie wandeln auf den Spuren des Vaters, haben ihn und sein Theater immer mal wieder unterstützt, gehören gewissermaßen auch zur Geschichte des Theater Willy Praml, stehen aber längst auf eigenen Beinen, die eine, studierte Schauspielerin, als Regisseurin, der andere als Musiker und Komponist, seit 2023 zudem als künstlerischer Leiter der Frankfurter Romanfabrik.

Welcher Papst bei ihm Pate gestanden hat, weiß er nicht. Aber seine Schwester weiß es umso besser: „Dieser strenge aus dem Mittelalter.“ Joanna-Maria Praml grinst: Ihren Namen soll der Legende nach eine Päpstin Ende des 11. Jahrhunderts getragen haben. Gregor Praml runzelt die Stirn: Mit Gregor VII., der Kaiser Heinrich IV. in Canossa die Stirn bot, hat er nicht viel im Sinn. Was sich sein Vater dabei wohl gedacht haben mag? Willy Praml, Prinzipal des gleichnamigen Theaters in der Naxos-Halle, wurde von Pallottinern erzogen. Er ist bibelfest und zu Hause in der Kirchengeschichte. Das merkt man immer wieder seinen Inszenierungen an. Seine Kinder sind anders. Dennoch wandeln sie auf den Spuren des Vaters: „Wir sind totale Theaterkinder“, sagt Joanna Praml, und ihr Bruder nickt zustimmend.

Seit Jahren ist Gregor Praml [immer wieder mal] für die Bühnenmusik im Theater Willy Praml verantwortlich. Auch die zweite Inszenierung seiner Schwester [Leonce und Lena] hat er musikalisch begleitet. […] „Mein erster Klassiker“, seufzt Joanna. Der Vater hatte ihr das Lustspiel von Georg Büchner vorgeschlagen: „Aber ich habe das Reclamheft in die Ecke geschmissen.“ Dann fand sie doch noch den Zugang. „Das ist die Realität meiner Generation. Leonce hat alle Möglichkeiten, aber die totale Verfügbarkeit der Dinge macht ihn unfrei. Er sehnt sich nach Grenzen in der Grenzenlosigkeit“, erläutert sie ihre Lesart des Stücks. Ihre Inszenierung mit hundert Einkaufswagen sollte nicht nur Konsumkritik sein. „Was kann man diesem System noch entgegensetzen, wie ausbrechen?“, fragt sie sich.10


Bacharach 2019: Das Theater Willy Praml bringt Festivalkultur nach Bacharach. Die Inszenierung Der Rabbi von Bacharach findet am Originalschauplatz von Heinrich Heines fragmentarischer Erzählung statt. Aus dem Open-Air-Theater ist mittlerweile ein umfangreiches Programm kreuz und quer über den Fluss geworden: „An den Ufern der Poesie“ bietet auch in Oberwesel, Lorch und Niederheimbach Schauspiel, Literatur und Musik und nimmt Kurs auf die Bundesgartenschau 2029, die ihre Fördermittel vorab auch in Kunst investiert. Wir sitzen auf einem Felsplateau vor dem „Günderrode-Filmhaus“ aus dem Set der legendären Film-Trilogie Heimat von Edgar Reitz mit Blick auf die Loreley und die Pfalz bei Kaub. Regisseur Willy Praml lädt unter dem Motto „Glotzt nicht so romantisch!“ zum Diskurs über Theater der Authentizität, an ungewöhnlichen Orten und in ländlichen Räumen. Und Schauspieler Michael Weber schreibt später dazu ein „Theatermanifest“, das ihn als weiteren kreativen Kopf des Kollektivs ausweist.

Räume bespielen: In denen man sich Theater nicht vorstellen kann
Die verborgenen Winkel: Ausleuchten!
Die ewigen Geschichten: Weitererzählen!
Die nicht erinnerten Geschichten:
Über die Ufer treten lassen!
Die Idylle: Auf den Kopf stellen!
Den Fährmann: Die Hauptrolle spielen lassen!
Die Vögel des Himmels: Choreografieren!
Die Landschaft: Zur Kunst erklären!
Die Kunst: Der Landschaft aussetzen!
Die Romantik ins 21. Jahrhundert: Katapultieren!
Mit der Romantik, nachdem sie ins 21. Jahrhundert katapultiert ist:
Die Zukunft denken!
Wagners Ring auf dem Rhein aufführen und nach seinem eigenen Regietraum: Sämtliche Kulissen samt der Partitur in Flammen aufgehen lassen!
Die Ufer des Rheins:
Mit den Ufern des Nils, des Mississippi, des Ganges, des Roten Meeres verwechseln!
Die Verbindung zwischen Theater und Wein: Zur heiligen Allianz erklären!
Mit anderen Worten: Alle Schleusen öffnen.11


An dieser Publikation haben viele mitgearbeitet und noch mehr in all den Jahren durch Texte, Interviews und andere Dokumente aus den Archiven dazu beigetragen. Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren, den Fotografen, der Lektorin Sophie-­Margarete Schuster, vor allem Willy Praml, Michael Weber und Birgit Heuser sowie dem Team des Theater Willy Praml. Ganz besonders danke ich Ruth Schröfel für die redaktionelle Mitarbeit, die zu jeder Zeit hilfreich mitrecherchiert hat, den Kontakt in das Theater gepflegt hat und mir wertvolle Hinweise geben sowie notwendige Korrekturen anregen konnte. Dem Trägerverein „Kulturelle Erziehung“ ist ebenso für die finanzielle Unterstützung der Publikation zu danken wie dem Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, dem Freund des Theaters Karl-Heinz Schultheis (†), dem Ehepaar Marianne Wege und Hans Kieser, der Katholischen Kirchengemeinde Dompfarrei St. Bartholomäus, dem Bischöflichen Ordinariat des Bistums Limburg sowie dem Gesamtverband der Katholischen Kirchengemeinden Frankfurt am Main und den Autorinnen und Autoren aus dem Freundeskreis des Theaters, die ihre Beiträge anlässlich des 80. Geburtstags von Willy Praml für das Buchprojekt gespendet haben.

Post Scriptum Politica Culturalis

„Es braucht eine klare kulturpolitische Steuerung, in welche Richtung sich die kulturelle Infrastruktur in Frankfurt entwickeln soll“12, heißt es im Bericht zur „Erhebung der Freien Spielstätten in Frankfurt am Main“ von EDUCULT Wien, im Auftrag des städtischen Kulturamtes aus dem Jahre 2023. Damit das gelingen könne, müsse zuerst eine Trennung von Infrastruktur­förderung und der Förderung von künstlerischer Produktion hergestellt werden. „Das kann mit der Einführung einer Spielstättenförderung gelingen“13, schreibt Dr. Aron Weigl, Geschäftsführer der Evaluati­onsagentur und benennt die Formulierung von Ziel­­­vereinbarungen, die Definition von Erfolgsindikatoren und längerfristige Förderperioden mit regelmäßigem Monitoring als kulturpolitische Aufgaben.

Es bedürfe einer Neuorientierung in der Frankfurter Kulturförderpolitik, die zu einer ­strategischen Entwicklung der freien Darstellenden Künste beitragen könne. „Frankfurt könnte beispielsweise Vorzeigestadt für kollaborative Modelle werden.“14 Und das Theater Willy Praml wäre wieder mal nicht nur mit dabei, sondern vorne dran – mit einer Theaterarbeit, die Kultur für alle und mit allen in Projekten und Produktionen zu inszenieren weiß.



1
Deutscher Bundestag: Kultur in Deutschland. Abschlussbericht der Enquête-Kommission, Regensburg 2008, S. 148.

2 Ebd., S. 61.

3 Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main: Evaluation der Freien Theaterszene in Frankfurt am Main. Abschlussbericht der Perspektivkommission, Frankfurt am Main 2012, S. 27.

4 Ebd., S. 28.

5 Vgl. Hermann Bausinger: Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte (Bausinger_Hermann_Weg_neues_aktives_Heimatverstaendnie.pdf (uni-tuebingen.de), Zugriff am 21.02.2024).

6 Willy Praml/Hansjörg Maier: Danksagung für den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. Manuskript im Archiv des Theaters Willy Praml, 1979.

7 Ebd.

8 Willy Praml: „Mission oder Vision? Das soziale ­Engagement der Theaterkunst“, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Jugendschutz. Aids, Sucht, Gewalt als Themen auf der Bühne, Weinheim/München 1993.

9 Claudia Schülke: „Kinder von Willy Praml. Wenn nichts so natürlich ist wie das Theaterleben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.8.2012.

10 Ebd.

11 Siehe An den Ufern der Poesie IV. Theaterfestival im UNESCO Welterbe Oberes Mittelrheintal, (www.mittelrheinfestival-poesie.com/theatermanifest, Zugriff am 18.02.2024).

12 EDUCULT: Erhebung der Freien Spielstätten in Frankfurt am Main, (https://educult.at/wp-content/uploads/2022/07/EDUCULT_Studie_Freie-Spielstaetten-in-Frankfurt-am-Main_2023.pdf, Zugriff am 18.02.2024).

13 Ebd., S. 132.

14 Ebd.

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