Theater der Zeit

Auftritt

Hamburger Kammerspiele: Das gemeinsame Leben im Wurmloch

„Was war und was wird“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz (UA) – Regie und Bühne Sewan Latchinian, Kostüme Celina Blümner

von Peter Helling

Assoziationen: Theaterkritiken Hamburg Dramatik Sarah Nemitz Lutz Hübner Sewan Latchinian Hamburger Kammerspiele

Alexa Harms, Stephan Benson und Nina Kronjäger in „Was war und was wird“ in der Regie von Sewan Latchinian – ein Coup für die Kammerspiele. Foto Bo Lahola
Alexa Harms, Stephan Benson und Nina Kronjäger in „Was war und was wird“ in der Regie von Sewan Latchinian – ein Coup für die KammerspieleFoto: Bo Lahola

Anzeige

Anzeige

Die Hamburger Kammerspiele hätten sie angerufen, erzählen der Autor und die Autorin im Interview, gefragt, ob sie ein Stück im Köcher hätten – sie hatten! Da lag seit zehn Jahren ein Entwurf, der jetzt zum Stück wurde: „Was war und was wird“. Das Besondere: Die Hamburger Kammerspiele landen schon mit der Ankündigung einer Uraufführung der beiden einen Coup, und Lutz Hübner und Sarah Nemitz konnten ein Stück fertig schreiben, das seit Corona eine neue Bedeutung bekommen hat, sagt Sarah Nemitz. Seit der Pandemie spiele für sie die Endlichkeit des eigenen Lebens eine größere Rolle, sie habe die letzten Jahre als Schwelle wahrgenommen. Und Lutz Hübner ergänzt, er kenne viele, für die seit Corona das eigene Zeitempfinden aus dem Lot sei. Wie bei einem „Wurmloch“ wüsste man manchmal nicht mehr, war das noch gestern oder doch schon vor einem Jahr? Um diesen seltsamen Verlust des Zeitgefühls geht es in ihrem neuesten Stück. Lutz Hübner und Sarah Nemitz sind das meistgespielte Dramatiker-Duo im deutschsprachigen Raum und haben dreißig gemeinsame Stücke geschrieben – sie sind Garanten für volle Häuser.

Theo und Anke kommen ins Theater, quetschen sich an der ersten Reihe vorbei auf der Suche nach ihren Sitzplätzen. Gut angezogen sehen sie aus, wie ein wohlsituiertes Paar aus der Nachbarschaft, Hamburg-Harvestehude (Kostüme Celina Blümner), große Mietwohnung, SUV. Sie nehmen schließlich auf der Bühne Platz, vor dem geschlossenen roten Vorhang. Mit dem Gesicht zum Publikum beginnen sie eine dieser belanglosen kleinen Streitigkeiten, wie man sie bei reifen Ehepaaren kennt. Die Parkplatzsuche nervenaufreibend, das Programmheft verknickt. Wir, das Publikum, spiegeln uns in ihnen, sie sich in uns. In dieser bestürzenden Normalität öffnet sich ein Riss. Eine Frau im blauen Arbeitsoverall taucht hinter ihnen auf, öffnet den Vorhang. Als Dea-ex-Machina, fast immer stumm, schön stoisch und wandelbar: Alexa Harms. Auf der Hinterbühne stehen ein paar Kisten, Requisiten, hängt ein Glitzervorhang, der Erinnerungsmüll eines Ehepaars, dessen Kinder fast flügge sind. Zeit für eine Bilanz: An einem Mikrofon gestehen Theo und Anke dem Publikum, was sie an ihrer Beziehung stört, was nicht so gut läuft. Dann tauchen sie ein in die 80er Jahre, spielen Möglichkeiten ihres Lebens durch, das erste Date: er im Schluffi-Look, mit Palästinensertuch und Parka, sie in greller Madonna-Optik. Es läuft „True Blue“, beide spielen Disko. Und es will nicht funken. Spätestens da wächst die Sorge, man habe es mit einem nostalgischen Stück zu tun, einer Mottenkiste der Perücken und Anekdoten. Es kommt anders. Denn die beiden machen immer wieder den Sprung in die Gegenwart zurück, gehen durch echte Krisen. Damals etwa, als sie zum ersten Mal schwanger war, es aber nicht Theo erzählt, sondern verstohlen ihrem besten Freund: am Telefon mit Wählscheibe im Flur der WG. Ein kleiner Verrat. Der erste Seitensprung, der Verlust des Jobs, die Frage, wer macht mehr für die Kinder, wer bläst das lustige Gummiboot für die Kleinen auf? Krisen, Risse, Brüche, Stress. Ein Idyll ist das hier nicht. Es ist: das Leben.

Das größte Pfund der Inszenierung: Stephan Benson und Nina Kronjäger spielen glaubhaft, wechseln ohne Mühe zwischen den unterschiedlichen Lebensaltern, verkörpern Verliebtheit, Bitterkeit, Verzweiflung überzeugend und mit Humor. Regisseur Sewan Latchinian, Künstlerischer Leiter des Hauses, der auch die Bühne entworfen hat, und Dramaturgin Anja Del Caro machen aus dem lebensnahen Dialogstück einen offenen, luftigen Erzähl- und Erinnerungsraum. Ein Stück über das Vergehen der Zeit, das immer mit der Identifizierung arbeitet. Man kann sofort andocken. Und trotzdem bleibt es klugerweise nicht im nostalgischen Rückblick stecken, im Gegenteil – das kann wohl nur das Theater – greift es sogar nach vorne, trickst die Zeit aus. Theo und Anke, zunehmend erschöpft von ihrem Erinnerungstrip, wagen einen Blick in die Zukunft, die die dritte Figur in Form zweier Geschenkboxen auf die Bühne stellt. Was sie darin finden, ist kein rosa Blumen-Bouquet. Im Gegenteil, beide haben eine Konfrontation mit dem Tod: Alexa Harms mit Totenmaske wirkt richtig bedrohlich.

Der Abend funktioniert auch durch die Musik, David Bowies „Where are we now?“ klingt fast wie eine Überschrift, wo stehen wir eigentlich jetzt? Und der Refrain von Whitney Houstons Schmachthymne „I will always love you“ setzt kurz nach der entscheidenden Frage des Stücks an: „Bleibst du bei mir?“ Trotz allem, trotz der banalen und harten Wirklichkeit. Das ist nah am Kitsch, aber nie zu viel. Dieses gelungene Spiel des Lebens, einfach, aber wirksam erzählt, ist eine Parabel auf das Glück und Unglück zu zweit. Und den Mut, den es braucht, das Leben gemeinsam zu meistern. Gerade heute, im „Wurmloch“.  

Erschienen am 21.9.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Das Ding mit dem Körper. Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater
Theaterregisseur Yair Shermann