Kollektive Autor*innenschaft in der Praxis von Frauen und Fiktion
von Anja Kerschkewicz und Eva Kessler
Erschienen in: Recherchen 155: TogetherText – Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater (12/2020)
Im folgenden Text geben wir anhand des Entstehungsprozesses der Performance You Are A Weapon! einen Einblick in die Praxis der kollektiven Texterzeugung von Frauen und Fiktion (FuF). Wir beschreiben unterschiedliche Ebenen der Autor*innenschaft mit verschiedenen Kollaborateur*innen im Recherche-, Proben- und Aufführungsprozess. Dabei zeigen wir auf, wie aus Recherchen und dokumentarischem Material eine Fiktion im Bühnenraum entsteht, und wie diese Fiktion die Wahrnehmung von Wirklichkeit verändern kann – wie also aus Wirklichkeit Fiktion und aus Fiktion Wirklichkeit entsteht.
I. Das Kollektiv Frauen und Fiktion
Dokumentarische Projekte erzeugen einen ausgewählten, deutenden Blick auf einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit. Indem sie ihn hervorheben, stellen sie ihn einem öffentlichen Diskurs zur Verfügung.1
Die recherchebasierten Performances des Kollektivs Frauen und Fiktion sind Gedankenexperimente über Geschlechterrollen. Dafür nehmen wir eine feministische Perspektive ein, die die Wirklichkeit vermeintlich eindeutiger, naturgegebener Differenzen zwischen Männern und Frauen nach ihren sozio-kulturellen Konstruktionen und Wirkweisen befragt. Indem wir Nischen-Beispiele ins Zentrum unseres Interesses stellen, erweitern wir das kollektive Gedächtnis um alternative Vorstellungsbilder.
In unserer Performance You Are A Weapon! porträtieren wir Angreiferinnen. Unsere schweißtreibende Auseinandersetzung basiert auf biografischen Interviews mit Expertinnen: einer Selbstverteidigungs-Trainerin, einer Kneipenwirtin, einer Anti-Aggressionstrainerin, einer MMA-Kämpferin und Andere. Mit drei von ihnen und der Musikerin Lina Krüger...