„Den Lohnarbeitern erscheint ihre Arbeit auch nicht mehr als das, was sie ist“
Eugen Ruge im Gespräch mit Matthias Rothe zum epischen Theater anlässlich des Buches „Tropen des Kollektiven. Horizonte der Emanzipation im epischen Theater“
von Eugen Ruge und Matthias Rothe
Assoziationen: Buchrezensionen Berlin Theatergeschichte Wissenschaft Dossier: Bertolt Brecht Bertolt Brecht Erwin Piscator

Tropen des Kollektiven analysiert drei ikonische Aufführungen des epischen Theaters am Ende der Weimarer Republik. Hoppla, Wir leben! an der Piscator-Bühne, Die Mausefalle, das Stück einer Gruppe freier Schauspieler*innen – der Truppe 31 – die sich in der ökonomischen Krise 1931 zusammentaten und ihr eigenes Theater gründeten und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Ergebnis einer Zusammenarbeit vieler Künstler*innen, die nicht institutionalisiert waren. Das Buch fragt nach den Vorstellungen oder Utopien von einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft, die diese linken Theaterprojekte entwickelten, indem sie ihre eigene Arbeit zum Modell erhoben, und es fragt, mit Bezug auf Marx, ganz grundsätzlich danach, was eigentlich künstlerische Arbeit ist.
Eugen Ruge: In deinem Buch Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert hast du dich mit dem Moment beschäftigt, als man im Theater die Vierte Wand einführte. Heute, zwanzig Jahre später, befasst du dich mit dem Avantgardetheater im frühen zwanzigsten Jahrhundert, also dem Moment, da die vierte Wand wieder eingerissen wird. In beiden Fällen handelt es sich um etwas, das man Fortschritt nennen könnte, vielleicht Revolution, und in beiden Fällen kommen – wenn ich etwa an die große Zeit des naturalistischen Theaters denke – mit der Theaterrevolution auch soziale Themen in den Fokus. Ich frage als Autor und Laie, nicht als Theaterwissenschaftler oder Historiker, der ich nicht bin: Die Umkehrung der Umkehrung – warum? Woher der Impuls in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts? Was genügte nicht? Welche Grenzen waren zu überwinden? Und: Gibt es nicht rein formal eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Theater des 18. Jahrhunderts, wo man sich im Halbkreis aufstellte und sich als Spieler von Rollen zu erkennen gab, und dem, was die Brecht-Gruppe später mit ihrem Grundsatz ‘Wir-zeigen-dass-wir-spielen’ gemacht hat?
Matthias Rothe: Ich würde zwei Dinge anders beschreiben: Erstens, die Herausbildung der Vierten Wand und ihre Abschaffung sind für mich nicht Teil einer Fortschrittsgeschichte. Ich beschreibe das ohne Wertung und es war auch nicht alternativlos, und zweitens, die ‚Abschaffung‘ der Vierten Wand ist keine Rückkehr zum präsentierenden Theater des 17. Jahrhunderts. Die Herausbildung dieser Spielweise hat etwas mit banalen materiellen Veränderungen zu tun, neue Möglichkeiten der Bühnen-Ausleuchtung etwa oder mit disziplinarischen Maßnahmen, der Anwesenheit von Polizei im Saal, die das Publikum ruhig zu stellen hatte usw. und zugleich mit einem neuen Bewusstsein für die Bedeutung von Gegenwart, weniger Interesse am ‚Wieder-holen’ alter großer Geschichten usw. Das Einreißen der Vierten Wand hat ebenso technische Voraussetzungen, neue Möglichkeiten der Projektions- und Beschallung, mobile Bühnen usw., und hat etwas mit der Unmöglichkeit zu tun, komplexe gesellschaftliche Vorgänge im Rahmen von ‚geschlossenen Geschichten‘ abzuarbeiten. Das nicht mehr verborgene Zeigen erlaubt ja alles zum Thema zu machen und bricht Kontinuität auf und schließt gleichzeitig an Vorstellungen von ‚Theater als Gemeinschaft’ an, die oft mit antiken Bezügen befrachtet sind, während im Theater der Vierten Wand vermeintlich die Zuschauer als vereinzelte nur ein ‚Produkt’ konsumieren. Die Abschaffung der Vierten Wand ermöglicht ein präsentierendes Theater, aber das ist etwas ganz anderes als das präsentierende Theater des 17. Jahrhunderts (die Ähnlichkeiten sind wirklich nur ‚formal.‘ oder besser, oberflächlich). Das neue präsentierende Theater ist durch die Vierte Wand hindurchgegangen; es stellt unter keinen Umständen einen direkten Kontakt zum Publikum mehr her. Es ist wie jede Produktion das Ergebnis einer kooperativen Proben-Arbeit, die nicht gleichzeitig mitgezeigt werden kann und erheischt so Distanz. Das Theater des 17. Jahrhunderts kannte keine Probe in unserem Sinne, die Geschichten waren bekannt, die Positionen vorbestimmt, die Sprechweisen geregelt, die Spielenden lernten ihre Rollen ohne die Anwesenheit der anderen usw.
ER: Ich weiß, du bist als Foucault-Geschulter dem Fortschrittsbegriff nicht eben zugeneigt. Dennoch sehe ich eine Entwicklung des Theaters vom 18. Jahrhundert aus, die, schon im naturalistischen Theater, auch in der Stoffwahl und in sozialem Interesse mündet. Nennen wir es Veränderung. Diese hängt sicherlich mit der Entwicklung der Gesellschaft zusammen. Ohne Frühkapitalismus gäbe es keine Weber von Hauptmann. Auch das engagierte Theater der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, das du im neuen Buch beschreibst, ist ganz auf der Höhe der zeitgemäßen politisch-philosophisch-ökonomischen Theorie. Es geht um die Befreiung der Arbeiterklasse aus den entfremdeten Produktionsbedingungen. Hierbei sind die Ansätze der drei Theatergruppen, die du fokussierst, verschieden. Wenn ich richtig verstehe, versuchen die Truppe 31 und die Gruppe um Piscator gewissermaßen die Befreiung von kapitalistischen Verhältnissen in der Theaterarbeit vorwegzunehmen. Man könnte denken, dass dieser Ansatz plausibel sei: Kunst als Akt der Selbstverwirklichung. Warum funktioniert es nicht? Und was funktioniert nicht?
MR: Ja, das ist plausibel, aber, und vielleicht seltsamerweise, reflektieren Piscator und die Truppe 31 gar nicht auf die Besonderheiten der künstlerischen Arbeit, also auf das, was man Probe nennt. Die Truppe 31 ist stolz darauf, neun Monate probiert zu haben, mit mehr als 85 Proben, aber was sie da getan haben, davon erfährt man nichts. Stattdessen stellen Piscator und die Truppe 31 ihre Arbeit als die bessere produktive Arbeit dar, reinszenieren sie regelrecht nach dem Modell der nicht-künstlerischen und überspringen einfach die Differenz zwischen der künstlerischen und der nicht-künstlerischen Arbeit. Das ist ein Merkmal vieler linker Avantgarde-Künstler, nicht nur im Theater, und auch ein Problem linker ästhetischer Theorie, man denke an Walter Benjamins Vortrag, „Der Autor als Produzent“, obwohl er vor der völligen Gleichsetzung am Ende doch noch zurückschreckt. Deshalb funktioniert es nicht.
ER: Was meinst du mit „reinszenieren“? Dass die Fabrikarbeit unmittelbar auf der Bühne inszeniert wird?
MR: „Reinszenieren“ trifft es bei Piscator nicht ganz, weil das wohl weniger ein bewusster Prozess ist. Aber wenn man sich etwa Piscators und Walter Gropius Plan für ein ‚Totaltheater‘ (Piscators Begriff) anschaut und den enormen technischen Aufwand, der in die Inszenierung ging, dann kann man den Eindruck haben, dass die Kooperation, die hier von Akteuren und Publikum erwartet wird, die technische der Fabrik ist. Akteure sind auf Funktionsstellen in den komplexen technischen Abläufen reduziert (Piscator nennt sie auch‚ Funktionen‘ wie Licht, Ton, Projektion) und das Publikum wird auf Schockreaktion abgestellt, also das passiert, was man im Bereich industrieller Arbeit ‚deskilling’ nennt. Auch wenn Piscator über die Vorbereitung der Inszenierungen spricht, interessiert ihn vor allem der technische Aufwand, die manuelle Schwerstarbeit. Die Truppe 31 hingegen re-inszeniert in der Tat auch ihre Probenarbeit, mit dem Ziel, sie als eine kollektive Arbeit auszustellen, die der in den Fabriken vergleichbar ist.
ER: Dass Probe und Aufführung denselben Geist atmen, ist ja erwartbar. Aber es geht noch weiter. Du beschreibst eine Aufführung der Truppe 31, die auf fast rührend naive Weise ein ganz wesentliches reales Dilemma des realen Sozialismus vorwegnimmt. Die Gruppe führt, wie du beschreibst, auf der Bühne die Befreiung der Arbeiterklasse vor, die darin besteht, dass sie sich die Fließbänder aneignen. Jetzt gehören ihnen die Produktionsmittel. Damit scheint das Problem gelöst. Aber alles andere ist in Wirklichkeit gleichgeblieben. Die menschenfeindliche, zerstörerische Art der Arbeit ist genau dieselbe. Hochinteressant finde ich, dass du in diesem Zusammenhang auf einen Konflikt in der Marxschen Theorie hinweist. In meinen Worten: Einerseits versteht Marx natürlich, dass die kapitalistische Produktion die Menschen zerstört, entfremdet, vereinseitigt etc., andererseits braucht er die moderne industrielle Produktion als Ort der Findung des Subjekts und der Revolution. Die industrielle Produktion kann im Rahmen dieses Konzepts nicht weggedacht, nicht überwunden werden, und genau das spiegelt die Aufführung der Truppe 31 ja wider.
MR: Ja, das „hilflose“ Experiment überwindet die Industriegesellschaft nicht. Das zu zeigen, darauf kam es mir an. Befreiung wird immer nur als Befreiung der Produktivkräfte gedacht, nicht als Befreiung von ihnen. Das nimmt künstlerisch verschiedene Formen an bei Piscator und bei der Truppe 31. Mein Ausgangspunkt war ein Erstaunen: Diese Theatergruppen betonen ihre kooperative Arbeit, das gemeinsame Hervorbringen von Aufführungen, aber sie reden nie über das, was sie eigentlich machen, die Proben. Hätten sie es getan, so meine These, wäre es nicht mehr möglich gewesen, ihre künstlerische Tätigkeit als die bessere Industriearbeit zu verstehen und sie wären bei anderen Utopien angekommen. Das heißt aber nicht, dass die künstlerische Arbeit freie Arbeit wäre, sie eignet sich zum Ausgangspunkt von Kritik, gerade weil auch sie kapitalistisch ist (wenn auch anderer Art). Und ‚Industriegesellschaft‘ ist ein Begriff, den ich auch nützlich finde, der es erlaubt, jenseits des Systemunterschiedes von Ost-West etwas Gemeinsames zu erkennen. Die Industrieproduktion in der Sowjetunion ist für mich letztlich eine Variante der kapitalistischen.
ER: Wenn ich richtig verstehe, hältst du die Herangehensweise derjenigen, die du Versuche-Gruppe nennst und zu der Brecht gehört für eher gelungen, und zwar gerade, weil die Gruppe nicht versucht, die – kapitalistischen – Bedingungen der Produktion von Kunst zu leugnen oder eine Befreiung davon auf der Bühne gewissermaßen vorzuleben, sondern die kapitalistischen Bedingungen zu zeigen, indem sie diese demaskiert. Könnte man sagen, dass dieser Impuls die Geburt des sogenannten epischen Theaters darstellt?
MR: Ja, das hast du sehr gut gesagt. „Demaskieren“, das trifft es. Allerdings verstehe ich episches Theater breiter: Piscator und die Truppe 31 gehören unbedingt dazu. Es sind Versuche, die Zeitlichkeit des Vorführens zu ändern, indem das Hier und Jetzt der Präsentation zum Entscheidenden wird. Die Tatsache, dass etwas dargestellt wird, ist nicht mehr verborgen und wird zum Ankerpunkt eines ästhetisch-politischen Projektes. Es ist eher so, dass das, was die Versuche-Gruppe macht, der direkte Eingriff zum Zwecke der Demaskierung, sehr kurzlebig war, nicht zuletzt wegen der Theaterkrise, die Teil der großen ökonomischen Krise war, und des Aufstiegs der Nationalsozialisten. Aber diese Phase hat wichtige Impulse geliefert für das, was dann zum ‚klassischen Werk‘ gezählt wird: Der Kaukasische Kreidekreis, Mutter Courage usw.
ER: Du sagst, wenn die Truppe 31 nicht versucht hätte, ihre künstlerische Tätigkeit als die bessere Industriearbeit zu verstehen, wären sie bei anderen Utopien angekommen, d.h. möglicherweise bei der Frage nach der Überwindung der Industriegesellschaft. Aber wie ist das mit der Versuche-Gruppe um Brecht? Indem sie sich entschließt, die kapitalistischen Bedingungen, unter denen sie produziert (und lebt) nicht etwa, auch nicht im Theater, zu überwinden, sondern lediglich kenntlich zu machen, bleibt sie den Bedingungen ja im Grunde verhaftet, darin übrigens Marx nicht unähnlich. Auch Marx, der, salopp gesagt, in seinen Gegenstand regelrecht verliebt zu sein scheint, bleibt ja stehen beim Kapitalismus. Er entwirft nur sehr wenig an konkreter Utopie, schon gar nicht, darüber sprachen wir oben, stellt er die Industriegesellschaft in Frage. Und so verweist auch die Arbeit der Versuche-Gruppe um Brecht nicht über diesen Horizont hinaus. Sie ‚zeigt‘, sie erklärt uns lediglich den Kapitalismus. Würdest du das anders sehen?
MR: Nein, aber ich halte das, wozu die Versuche-Gruppe kommt, für das überhaupt Erreichbare. Den Moment eines verliebten Verhaftetseins am Konsumspektakel, den gibt es; ohne ihn wäre diese Kritik vielleicht gar nicht möglich, aber das Gelingen besteht darin, die Funktionsweise des Kapitalismus auf eine Weise zur Erfahrung zu machen, dass sie überwindbar scheint, konkret im Theater, aber darüber vermittelt überhaupt. Kant hat zwischen Schranke und Grenze unterschieden, die Schranke blockiert nur, schneidet ab, aber wenn man an der Grenze ist, ist man auch auf ihr und bereits über sie hinaus. Das geschieht, wenn die Akteure und das Publikum ihr eigenes Verhalten beobachten können. Was wir mit dieser Erfahrung machen, ist nicht mehr Sache des Theaters.
ER: Adorno spricht ja in „Engagement“ von der „didaktischen Poesie” Brechts und kritisiert: „Die Menschen auf der Bühne schrumpfen sichtbar zusammen zu … Agenten sozialer Prozesse und Funktionen.”3 Vielleicht ist das übertrieben, dennoch: Brecht erklärt die Welt, er weiß über sie Bescheid, was angesichts des Scheiterns der sozialistischen Utopie heute schwierig erscheint, und besonders noch, weil diese Utopie die Möglichkeit der Befreiung von der Produktion eben nicht enthält. Die Frage für mich ist, inwieweit schließt die Brechtsche Methode nicht von vornherein das aus, was derjenige, der das Werk produziert, nicht bereits weiß, nicht bereits in seinem Kopf hat. Und ob Kunst nicht eigentlich das ist, was auf diese Art Mehrgewinn zielt, auf das, was nicht vorher gewusst werden kann. Oder führt das zu weit von deinem Text weg?
MR: Das führt nicht weg. Adorno spricht ausdrücklich nicht von der Phase des epischen Theaters, die ich vor allem untersuche und zu der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny gehört. Er hat eine begeisterte Rezension zur Frankfurter Aufführung von Mahagonny geschrieben und bemerkt, dass er außer den Schönberg-Opern „kein Werk wüsste, dass den Begriff der Avantgarde besser erfüllt”4 und in einer weiteren Rezension schreibt er‚ dass mit Mahagonny “die Anarchie der Warenproduktion so zum krassen Entsetzen verkürzt wird, wie es die ökonomische Analyse gar nicht kann”.5 Durch die damit ermöglichte Distanzierung, wird eben doch hier eine Befreiung von der großen Produktion denkbar. Diese Phase des epischen Theaters der Versuche-Gruppe produziert im strengen Sinne gar keine Werke, sie interveniert in Werke und ihre Aufführungsbedingungen. Der ‚Didaktizismus‘ der späteren, ‚echten‘ Stücke dieser Spielart des epischen Theaters verdanken sich auch der Exilsituation und damit verbunden einer viel traditionelleren Praxis von Autorschaft, die Brecht wieder als den großen Verantwortlichen einsetzt. Das ist durchaus auch Thema des Buches.
ER: Ich will die Frage noch mal anders stellen. Es gibt diesen berühmten Brief von Engels an Margaret Harkness, in dem er am Beispiel Balzacs klarmacht, dass der Text eines Autors klüger sein kann als der Autor selbst.6 Um diesen Mehrwert geht es mir. Kann das bei Brecht passieren? Oder ist so etwas nur mit dem Einsatz des Persönlichen zu haben? Spätestens bei den Lehrstücken wird Brechts Didaktik für mich unerträglich. Das hat vielleicht mit meiner Familiengeschichte zu tun, die ja unmittelbar vom Stalinismus betroffen war. Aber ein Stück wie Die Maßnahme ist in meinen Augen eine vorauseilende Apologie des Roten Terrors. Es geht im Wesentlichen darum, das Menschenopfer zu rechtfertigen. Der Eine muss um der Vielen Willen geopfert werden. Darauf will das Stück einstimmen, das soll – von Laien – eingeübt werden. Und das Stück ist so konstruiert – das Wort konstruiert trifft es hier wirklich – dass eine andere Wahl gar nicht möglich ist. Es können keine Überraschungen passieren. Es ist hier kein Platz für irgendetwas, das über die Absicht des Autors hinausgeht.
MR: Ich versuche in meinem Buch, solche Beobachtungen, dass die Absicht des Autors sich so unmittelbar durchzusetzen scheint, dass es dort so wenig Platz dafür gibt, dass das Geschaffene ‚klüger ist‘, produktionsästhetisch zu denken und zu fragen, aus welchen Problemlagen heraus sich eine solche didaktische Ästhetik entwickelt hat. In der ‚Mahagonny-Phase‘ der Versuche-Gruppe wurde das Verwertungsregime der Kunst angegriffen, dazu musste gerade die Vorstellung einer Schöpfungsautorschaft unterlaufen werden. Dass ist nicht nur durch das Getrennthalten der künstlerischen Elemente Musik, Wort, Spiel, Bild usw. geschehen, deren ‚Träger’ dadurch als selbstständige ‚Produzenten‘ sichtbar wurden, sondern auch durch den Zitatcharakter des Ganzen, der keinen einfachen Ursprung mehr denken ließ. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und dem Exil hat sich die Produktionssituation geändert. Mit den Lehrstücken, die auch Gemeinschaftsprojekte waren, wollte man vor allem politisch schulen. „Die Maßnahme“ war auch ein Experiment damit, ob die vorgegebenen Vorgänge im Spiel überhaupt plausibel gemacht werden können; also das Politische wurde gezielt mit dem Ästhetischen verknüpft, um es zu testen. Das sieht man an den vielen Umschreibungen, die zeigen ja im Grunde, dass die Autoren den Sinn nie ganz kontrollieren. Übrigens hat Hannah Arendt dann Die Maßnahme dafür gelobt, dass sie die Logik des Terrors und der Prozesse sichtbar macht.7 Die Stücke aus dem Exil, wo es kein beständiges Publikum mehr gab, sind als Lesestücke geschrieben, nicht mehr unmittelbar als Eingriffe in die Praxis. Obwohl immer noch fundamental kooperativ gearbeitet wurde, hat man den Sinn, vereinfacht gesagt, absichern wollen, weil die Rezeption kaum noch kontrollierbar war. Die kooperative Praxis hat den Bezug auf den individuellen Autor wieder hergestellt, auch, um die Eindeutigkeit des Sinns abzusichern. Das kann man im Sinne Adornos kritisieren und sagen, es geht auf Kosten von Kunst und Politik und wird ein fauler Kompromiss. Mir geht es aber nicht um solche Wertungen, sondern darum, zu verfolgen, wie sich die Form der Kooperation ändert und wie sich das in der ästhetischen Form und im Utopiepotential ausdrückt.
ER: Wenn Hannah Arendt Die Maßnahme dafür lobt, dass sie die Logik des Terrors und der Prozesse sichtbar macht, dann ist das ja wohl nicht das, was Brecht intendierte. Soll man hier sagen: das Stück ist klüger als der Autor, im Sinne von Engels?
MR: Ja. Ganz grundsätzlich würde ich sagen: Jeder Text ist klüger als sein Autor, selbst wenn die Autoren den Sinn explizit machen und die Zukunft absichern wollen. Das ist unvermeidlich, eben weil es nie nur der Text eines Autors ist, sondern die Gesellschaft an ihm mitarbeitet. Und weil die Bedeutungsmöglichkeiten ja immer durch die von Autoren nie zu kontrollierenden Umstände der Rezeption mitbestimmt werden. Mit der Maßnahme ist solche Mitarbeit zum Programm erhoben, Hanns Eisler, Brecht und Elisabeth Hauptmann und sicher noch andere haben an Text und Musik gearbeitet, Die Maßnahme ist ein Singstück (!), und sie ist auf eine Umschreibung hin angelegt, die die Praxis der Einübung notwendig macht. Nicht auf beliebige Umschreibung, wie Paul Hindemith es nahelegt hat8, sondern die textliche Spielvorlage wird so weit es eben geht plausibel gemacht. Wenn die Spielenden dann an Grenzen stoßen, wird die Vorlage den Textern zurückgegeben, Änderungen werden „beantragt“, wie es irgendwo in den Notizen zu den Lehrstücken heißt. Dadurch wird die Möglichkeit des Einverständnisses mit dem Vorgehen der Agitatoren zugleich auf die Probe gestellt, auch wenn das vielleicht nicht zum ursprünglichen Programm gehörte. Das ist es, was ich meine, wenn ich sagen: das Ästhetische wird zum Test für die Politik.
ER: Ich insistiere hier mal nicht weiter. Es ist schön, dass du Brecht verteidigst. Aber gibt es Grenzen? Du sprichst vom Versuch, die Schöpfungsautorschaft zu unterlaufen, um das kapitalistische Verwertungsprinzip anzugreifen. Andererseits – und das ist ein Widerspruch – lese ich bei dir, dass es bei der Versuche-Gruppe diese Illusion gar nicht gab: die Kunst vom kapitalistischen Verwertungsprinzip zu befreien. Es ist mit dieser Haltung – die Verhältnisse, die sind nicht so! – durchaus kohärent, wenn Brecht sich die kollektive Arbeit – oder Zuarbeit, je nachdem, wie man seine Rolle sieht – schließlich aneignet, geistig und auch materiell. Das bringt mich, viel strapaziertes Thema, auf Brechts Verhältnis zu Frauen, denn es sind ja vor allem Frauen, die er ausbeutete. Ich frage mich, inwieweit sich dieses Verhältnis ästhetisch niederschlägt. Ich bin wirklich nicht als woke verschrien, dennoch gehen mir Songs wie Surabaya-Johnny oder der Zuhältersong gegen den Strich mit ihrer Puff- und Prügelromantik. Ich sehe nicht, inwiefern hier etwas „demaskiert“ wird. Ich finde es nicht witzig, wenn die Hure davon schwärmt, wie ihr Macker ihr seinerzeit „ins Zahnfleisch gelangt“ hat9. Dein Buch ist von vorn bis hinten korrekt durchgegendert, vielleicht erwarte ich deswegen mehr Nachdruck bei diesem Thema? Oder findest du, dass sich die falsche Romantik von selbst entlarvt?
MR: Ich glaube, mittlerweile tut sie das. Aber auch wenn das für dich vielleicht unbefriedigend ist, es geht mir nicht um Brecht, weder um seine Verteidigung noch um seine Verurteilung. Mir geht es darum, einen Zusammenhang herzustellen, zwischen, verkürzt gesagt, der künstlerischen Arbeitsweise und der Werkform (und damit auch dem Darstellbaren). Und in diesem Zusammenhang komme ich sowohl auf das Geschlechterverhältnis als auch auf das Aneignungsverhältnis, dass die Arbeitsweise prägt, zu sprechen. Ich diskutiere zum Beispiel den Mandalay-Song, der ein Kolonial-Bordell beschreibt, ein ähnliches Register aufmacht wie Surabaya-Johnny. Genau deshalb gibt es das Kapitel zu den Grenzen der Kritik. Ich konzentriere mich darin allerdings auf die kolonialen Referenzen, weil das für Mahagonny absolut fundierend ist, der Mandalay-Song ist Teil dessen. In meinem Abschlusskapitel werden dann die Frauenfiguren in den Exilstücken zentral. Wenn in Mutter Courage, Der gute Mensch von Sezuan oder Der Kaukasische Kreidekreis der Kapitalismus darüber kritisiert wird, dass Frauen ihre Fähigkeit zur Anteilnahme oder Sorge um die Kinder verlieren, funktioniert solche Kritik ja nur unter der Voraussetzung bestimmter natürlicher weiblichen Eigenschaften. An solchen Stellen hört das kritische Exponieren auf. Dass Kapitalismus sich sowohl auf Kolonialismus als auch auf bestimmte Geschlechterdifferenzierungen verlässt, ist nicht mehr im Horizont der Kritik. Solche Widersprüche in den eigenen Ambitionen haben unter anderem mit einem produktivistischen Verständnis von künstlerischem Material zu tun, wie ich vorschlage, das die im Material eingeschriebene Geschichten von Unterdrückung nicht mehr entbinden kann. Zu deiner Frage nach Brechts Aneignung der Arbeit anderer: Ich setze ja voraus, dass künstlerische Arbeit immer kooperativ ist, aber als Schöpfungsarbeit zur Erscheinung kommen muss, also auf einem Aneignungsverhältnis beruht; daran arbeiten alle Beteiligten mit, das wird also selbst kooperativ hergestellt. Den Lohnarbeitern erscheint ihre Arbeit auch nicht mehr als das, was sie ist. Im Falle der Versuche-Gruppe ändert sich, wie gesagt, die Form der Autorschaft mit dem Exil. Ging es mit Mahagonny noch um ihre kritische Exponierung, wird in den Exilstücken der Autor so etwas wie ein Produktionsleiter, mit Kontrolle und Übersicht, sein Wort ist immer das letzte, selbst wenn es beständig wiederholt werden muss. Natürlich kann man es persönlich machen und Brecht vorwerfen, hinter die eigenen Ansprüche zurückzufallen, aber wie du sagst, dazu gibt es andere Bücher, das ist nicht die Fragestellung von meinem.
ER: Nein, es geht mir nicht um eine Verurteilung Brechts. Es geht mir eher um so etwas wie den Zusammenhang zwischen Ästhetik und kapitalistischer Aneignung. Aber kommen wir auf die kolonialen Referenzen in Mahagonny zu sprechen. Während ich die Frauenfrage vielleicht etwas unterbelichtet finde, habe ich beim Kapitel über die racialisation, deutsch vielleicht etwas unelegant Rassifizierung, Schwierigkeiten, mitzugehen. Zweifellos war die europäische Welt zu Brechts Zeit rassistisch und von kolonialer Herablassung geprägt, darüber müssen wir nicht reden. Aber gerade Brecht und der Versuche-Gruppe würde ich Rassismus nicht unterstellen, bei aller Gefangenheit in der Zeit. Ich will mit meiner Frage beim Thema Jazz bleiben, es wäre schön, wenn du auch mit deiner Antwort dabei bleibst, damit wir nicht alle Aspekte deiner Argumentation diskutieren müssen. Was du sagst, ist ungefähr Folgendes, wenn ich es recht verstehe (ich gebe zu, dass es mir nicht leicht gefallen ist): Es geht um den Warencharakter der Vergnügung, Trinkgelage, Sex, Kämpfe. Der raffinierte Konsumismus Mahagonnys würde, so etwa dein Argument, vermittels des als schwarz empfundenen Jazz eine paradoxe Verbindung zu primitiver Zügellosigkeit eingehen. Das „Schwarze“ wird sozusagen kulinarisiert und, wenn auch entkörperlicht, zum Gegenstand des Konsums, zur Ware. Wenn man so argumentiert, wird jeder kulturelle Fluss, jedes Crossover, jeder Austausch, im Grunde der Motor aller kulturellen Bewegung – all das wird zur rassistischen Geste. Wenn Kurt Weill das ungezügelte, wilde Moment – das der Jazz ja hat! – aufgreift, in die eigene Musik einschreibt, etwa als Kommentar zu dem tatsächlich ungezügelten, wilden, in Wirklichkeit gar nicht so ‚raffinierten‘ Konsumtreiben in Mahagonny, dann sehe ich darin nichts Rassistisches. Wenn man diese Musik als „primitiv“ denunziert, ist das rassistisch. Hat Kurt Weill das getan? Hat er „primitive“ Musik geschrieben, um eine wie auch immer geartete Nähe zwischen kapitalistischem Konsum und schwarzer Kultur herzustellen? Ist ihm das unterlaufen? Oder ist das der Blick des nachträglich Urteilenden? Hat Kurt Weill nicht in Wirklichkeit genau das getan, was du in deinem Buch als wesentliche Bedingung jeder Kunst beschreibst, nämlich das Schöpfen aus kollektiven Quellen – die sich zum Glück nicht auf Heimatdichtung und Volkslieder beschränken?
MR: Das hat Weill auch getan, aber in Mahagonny verhält sich die Sache anders. Ich würde unbedingt zwischen verschiedenen Aneignungsweisen von Jazz unterscheiden und es geht mir nicht darum, kulturellen Austausch oder ‚Inspirationen‘ überhaupt zu kritisieren. Du sagst „das ‘Schwarze’ wird sozusagen kulinarisiert“ in Mahagonny, aber es ist eher so, dass es als das bereits Kulinarisierte bzw. mit Stereotypen aufgeladene wiederverwendet wird. Das ist das Problem. Wenn in den Anmerkungen zur Maßnahme steht, dass die Gier des Warenhändlers durch eine Musik ausgedrückt werden soll, die nur „die Imitation einer Musik“ ist, nämlich durch den Jazz10 und Brecht gleichzeitig zugibt, dass dieser Imitationscharakter natürlich nur ein Ergebnis seiner kulturell-kommerziellen Zurichtung in Weimar ist, dann heißt das für mich, dass sie nicht etwa diese kulturelle Zurichtung zum Thema machen, sondern sie reproduzieren, indem sie sie instrumentalisieren. Das geschieht in Mahagonny eben nicht nur durch die Musik, sondern auch durch solche Texte wie den Mandalay-Song oder durch die Projektionen von Caspar Neher, in denen sich Paul Ackermann in einen schwarzen Entertainer verwandelt, wenn er das neue Gesetz der Zügellosigkeit verkündet: ‚Du darfst‘. Rassifizierung wird durchweg zum Element einer Warenkritik.
ER: Lassen wir das so stehen. Du hast ein kluges und interessantes Buch geschrieben, das das epische Theater einerseits würdigt, anderseits seine Grenzen aufzeigt, sogar – deine Worte – sein Scheitern bei dem Versuch, eine nicht-kapitalistische Gesellschaft im Theater vorwegzunehmen. Für mich war vieles neu. Ich beanspruche nicht, alles verstanden zu haben, aber ich habe viel gelernt. Ich danke dir für dieses Buch, für die zweifellos gigantische Arbeit, die darin steckt.
Dieses Gespräch zwischen Eugen Ruge und Matthias Rothe wurde im April 2025 schriftlich geführt und erstmalig bei E-CIBS.org veröffentlicht. E-CIBS (Electronic Communications from the International Brecht Society) ist das Theaterjournal der International Brecht Society. Es wurde 1971 gegründet und erscheint seit 2016 in elektronischer Form.
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- Benjamin, Walter: »Der Autor als Produzent«, in: ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt a. M. 2002.
- Erwin Piscator: Das Politische Theater (1929), Berlin 1968, S. 83.
- Theodor W. Adorno, „Engagement“, in: Noten zur Literatur II, Frankfurt a.M. 1965, S. 117.
- Theodor W. Adorno, [„Mahagonny in Frankfurt am Main“], in: Brecht/Weill „Mahagonny“, Hg. Von Fritz Hennenberg und Jan Knopf, Frankfurt a.M. 2006, S. 362.
- Theodor W. Adorno, „Mahagonny“, in: Brecht/Weill „Mahagonny“, Hgg. Von Fritz Hennenberg und Jan Knopf, Frankfurt a.M. 2006, S. 355.
- Friedrich Engels and Margaret Harkness (April 1888) https://www.marxists.org/archive/marx/works/1888/letters/88_04_15.htm (zuletzt aufgerufen am 27.4. 2025).
- Arendt, Hannah: »Quod licet Jovi … Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik«, in: Merkur 23 (1969), H. 7, S. 635.
- Brecht Versuche Heft 1-4, Berlin 1963, S. 141.
- Bertolt Brecht, „Zuhälterballade“, in: Große Berliner und Frankfurter Ausgabe, Werke II (Stücke 2), 1988, S. 272.
- Bertolt Brecht, „Zu ‚Die Maßnahme‘ (Anmerkungen), in: Große Berliner und Frankfurter Ausgabe, Werke XXIV (Schriften 4), 1991, S. 99.
Erschienen am 6.6.2025