Theater der Zeit

»Wo soll denn jetzt der Text herkommen?«

Zur Auflösung von individueller Autorschaft im zeitgenössischen Theater

von Miriam Dreysse

Erschienen in: Recherchen 155: TogetherText – Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater (12/2020)

I. Vom Autor als Schöpfer

»Wo soll denn jetzt der Text herkommen?«, fragt eine Darstellerin in Tod eines Praktikanten von René Pollesch; wo soll denn jetzt der Text herkommen, wenn es den Autor nicht mehr gibt, und auch der Regisseur ist nicht mehr da: »Und da ist René, ihm geht’s nicht gut […]. Den brauchen wir nicht.«1

Nun haben wir es im Falle von René Pollesch mit einem namentlich bekannten Autor und Regisseur zu tun, der allerdings mit verschiedenen Mitteln versucht, tradierte Formen der Autorschaft und Regie zu unterlaufen und so die Mechanismen und Wirkungsweisen der Repräsentation zu hinterfragen. Zum einen auf ästhetischer Ebene: Der Text wird montiert aus theoretischem Textmaterial, Fragmenten der Populärkultur und Texten, die im Probenverlauf von Darsteller*innen und Pollesch gemeinsam entwickelt werden. Hier fließen etwa die Diskussionen über gemeinsame theoretische Lektüre mit ein, aber auch der eigene Lebens- und Arbeitsalltag. Bis zu einem gewissen Punkt haben wir es also bei Pollesch mit einer kollaborativen Textentwicklung zu tun.2 Der Text liegt nicht zum Beginn der Proben fertig vor, sondern wird im Verlauf der Probenzeit geschrieben, weiter- und umgeschrieben, teilweise auch über die Premiere hinaus. Er ist so eng an die Aufführunggebunden (und dies ist auch...

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