Theater der Zeit

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Auftritt

Theater Heilbronn: Die Angst vor dem Krieg kriecht in die Köpfe

„Pershing“ (UA) – Regie, Konzept und Text Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura, Ausstattung Jessica Rockstroh, Musik Jonas Marc Anton Wehner

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg dura & kroesinger Theater Heilbronn

Ein Recherche-Projekt zum 40. Jahrestag des Pershing-Unglücks auf der Heilbronner Waldheide von dura & kroesinger.
Ein Recherche-Projekt zum 40. Jahrestag des Pershing-Unglücks auf der Heilbronner Waldheide von dura & kroesinger.Foto: Jochen Klenk

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Als riesiges Mahnmal des einstigen Fortschrittsglaubens liegt das abgeschaltete Atomkraftwerk Neckarwestheim im Tal bei Heilbronn. Nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011 erkannte die deutsche Politik die Gefahr, die von dieser Energiequelle ausgeht. Wenige Kilometer entfernt, entgingen die Menschen in der schwäbischen Stadt vor 40 Jahren nur knapp einer Katastrophe. Am 11. Januar 1985 explodierte eine der seit 1983 in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Pershing-II-Raketen, die in der Heilbronner Waldheide gelagert waren. Drei amerikanische Soldaten wurden dabei getötet, 13 weitere schwer verletzt. Daneben waren die Atomsprengköpfe gelagert, die ganze Regionen hätten ausradieren können. Dieses dunkle Kapitel des Kalten Kriegs arbeiten Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura in ihrem neuen Dokumentartheater „Pershing“ auf.

Mit Mut zur Sachlichkeit packt das Theater Heilbronn ein Thema an, das auch nach Jahrzehnten beklemmend aktuell ist. Zwischen Weinbergen und Wäldern waren einst US-Truppen stationiert. Sie hatten ihre Raketen in Deutschland in Stellung gebracht, um im Kriegsfall auf die russischen SS-20-Raketen reagieren zu können. Die amerikanischen Waffen sind nach dem General John J. Pershing benannt. Was hinter den Toren der US-Militäranlage passierte, wussten die Menschen in Heilbronn nicht.

Dass es bei diesem sinnlosen Wettrüsten nur Verlierer gibt, zeigt der Abend stark. In Zusammenarbeit mit dem Heilbronner Stadtarchiv haben Kroesinger und Dura nicht nur akribisch recherchiert. Der Theaterabend spiegelt die Angst, die damals nicht nur Tausende Friedensbewegte auf die Straßen trieb. Dass die Industriestadt Heilbronn, die idyllisch eingebettet zwischen Weinbergen liegt, an diesem 11. Januar 1985 fast ausgelöscht worden wäre, ist längst in Vergessenheit geraten. Diese Erinnerung holt das Theater Heilbronn nun auf die intime Bühne der Boxx zurück.

Wie aktuell das Thema gerate heute wieder ist, da Russland die Ukraine angegriffen hat und seitdem ein Krieg mitten in Europa tobt, lässt der Theaterabend spüren. Immer wieder ist in den aktuellen Schlagzeilen die Rede vom Dritten Weltkrieg. Deutschland befindet sich im Prozess der massiven Aufrüstung. Diese Verunsicherung spiegelt die packende Regiearbeit. Ausstatterin Jessica Rockstroh hat den Bühnenraum mit griffigen Symbolen bestückt. Dokumentarisches Bildmaterial wird über eine Leinwand eingespielt. Die technischen Finessen, mit denen das Regieteam arbeitet, holen die jüngere Geschichte beklemmend nah heran. Auch heute kriecht die Angst vor dem Krieg wieder in die Köpfe.

Die Schauspieler:innen sitzen auf Raketenteile, über die Moos wächst. Lisanne Hirzel, Gabriel Kemmether, Pablo Guaneme Pinilla, Juliane Schwabe und Sven-Marcel Voss lassen sich auf den Spagat zwischen harten historischen Fakten und den Schwächen der politischen Entscheider ein. Dass der Gemeinderat der Stadt lange zu der Stationierung schwieg und nichts gegen die Stationierung unternahm, ist ebenso ein dunkler Fleck in der Stadtgeschichte wie das Schweigen der Medien über das, was sich hinter dem Zaun der Waldheide abspielte.

Dass die anfängliche Hilflosigkeit in die Geschichte eines Widerstands mündet, zeigen die Schauspieler:innen stark. Die Initiative FRIDA, kurz für „Frieden Im Deutschen Alltag“, machte nicht nur die Aktivitäten der amerikanischen Streitkräfte transparent. Die Männer und Frauen haben auch Blockaden und Protestmärsche organisiert, um die Stationierung weiterer Waffen zu verhindern. In diesen Kampf klinkten sich auch die Kommunalpolitiker ein. „Pershing“ weist weit über die Dokumentation eines historischen Ereignisses hinaus.

Mit ihrem Theater des Erinnerns zeigen Kroesinger und Dura, was die politische Weltlage mit Menschen in ihrer überschaubaren Lebenswirklichkeit macht. Obwohl die jungen Schauspieler:innen die Jahre der Friedensbewegung nicht selbst erlebt haben, erfüllen sie die Dokumente aus dem Stadtarchiv mit Leben. Unsicherheit und Furcht, die aus ihren Worten sprechen, sind aus heutiger Sicht gefühlt und gelebt. Wenn die Worte versagen, kriecht die Musik von Jonas Marc Anton Wehner bedrohlich unter die Haut. Songs aus den 1980er-Jahren rufen die Vergangenheit ins kollektive Gedächtnis zurück. Dieses künstlerische Konzept ist alles andere als trocken. Der Spagat zwischen Erinnerungskultur und ästhetischer Tiefe ist in „Pershing“ geglückt.

Erschienen am 6.6.2025

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