Magazin
Avantgarde mit Staubschicht
Édouard Louis, Angélica Liddell und Kirill Serebrennikov beim FIND-Festival
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)
Im letzten Jahr fiel Pandemie-bedingt das Festival Internationale Neue Dramatik an der Berliner Schaubühne aus. In diesem Jahr wurde es mit weitgehend gleich gebliebenem Programm wiederholt. Das ist einerseits verdienstvoll. Andererseits wirkte FIND in diesem Jahr seltsam aus der Zeit gefallen.
Es muss eine Revolution her. Dies behauptete Édouard Louis zum Abschluss seiner Ein-Mann-Show „Qui a tué mon père? (Wer hat meinen Vater umgebracht)“. Er erntete zustimmenden Applaus – im ansonsten Umstürzen wenig zugeneigten bürgerlichen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Aber Louis hatte sein Publikum gefangen genommen mit seiner Coming-of-Age-Geschichte im so proletarischen wie homophoben Milieu eines Dorfs in Nordfrankreich.
Verblüffend war an diesem von Thomas Ostermeier inszenierten autobiografischen Abend, wie tief verankert im familiären Umfeld des 1992 geborenen Louis die Ablehnung von Homosexualität, ja die Brutalisierung und Engführung von Sexualität überhaupt, gewesen sein muss. Diverse sexuelle Revolutionen waren da längst über den Globus gefegt; im dörflichen Milieu von Louisʼ Kindheit schien aber selbst um die Jahrtausendwende wenig davon angekommen zu sein. Dass in einem zweiten Erzählstrang die kapitalistische Arbeitswelt und das neokapitalistisch entkernte Gesundheits- und Sozialwesen Frankreichs als verantwortliche Instanzen des körperlichen Niedergangs des Vaters angeklagt wurden, hat sicher seine Berechtigung. Wie auch Louisʼ Forderung nach dem Einzug von mehr Politik...