Magazin
Ungeschliffene Murmeln
Sasha Marianna Salzmann: „Außer sich“, Suhrkamp Berlin 2017, 365 Seiten, 22 Euro.
von Lena Schneider
Erschienen in: Theater der Zeit: Die rote Revolution – Russland zwischen 1917 und der Gegenwart (11/2017)
„Die Aristokraten“ heißt einer der jüngsten Theatertexte von Sasha Marianna Salzmann, ein klaustrophobisches Kammerstück über ein Geschwisterpaar. Zwillinge, die sich in einer Wohnung hoch über einer Stadt mal streicheln, mal zerfleischen, während die Stadt unten im kriegsähnlichen Chaos versinkt. „Außer sich“, der erste Roman der Theaterautorin, der es gleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte, nimmt das Motiv der unentwirrbaren Geschwisterliebe der „Aristokraten“ auf, holt aber diese Liebe heraus aus der Abschottung, heraus aus einer Welt, die das Draußen nur vom Hörensagen kennt. Stattdessen wirft sie die Geschwister, Anton und Ali heißen sie im Roman, gnadenlos hinein in ein gewaltiges Panorama.
Es ist das Panorama ihrer Herkunft, der Herkunft einer jüdischen Familie in Europa. Weit verzweigt, unübersichtlich, durchzogen von Verfolgung, Ausgrenzung, Tod und Galgenhumor. Die Geschichte von Anton und Ali wird durchwebt von den Geschichten der Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Urgroßeltern. Geografisch pendelt der Roman zwischen Odessa, Czernowitz, Moskau, Istanbul und Berlin, zeitlich umspannt er ein ganzes Jahrhundert. „Alis Erinnerungen legten sich aufeinander wie Folien und verrutschten“, heißt es einmal. „Sie ergänzten und widersprachen sich, ergaben neue Bilder, aber sie konnte sie nicht lesen, auch Kopfschütteln brachte nichts.“ So liest sich „Außer sich“: wie ein Übereinander zahlreicher Ebenen –...