Theater der Zeit

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Auftritt

Theater und Orchester der Stadt Heidelberg: Liebe lässt die europäische Eiszeit schmelzen

„Unter Euch. Je promène ma mélancholie parmi vous“ von Thomas Depryck (UA) – Regie Suzanne Emond, Bühne und Kostüme Lana Ramsay, Musik Tobias Vethake

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Uraufführungen Suzanne Emond Theater und Orchester Heidelberg

Sprachlos in der eigenen Familie: Eine Szene aus er mehrsprachigen Produktion "Unter Euch" am Theater Heidelberg.
Sprachlos in der eigenen Familie: Eine Szene aus er mehrsprachigen Produktion "Unter Euch" am Theater Heidelberg.Foto: Susanne Reichardt

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Französisch ist die Muttersprache der Belgierin Manon. Worte sind der feste Halt, der ihr Leben prägt. Doch der Liebe wegen ist sie nach Deutschland gezogen, zieht da ihre Kinder groß. Was es bedeutet, zwischen den Kulturen zu leben, erforscht der belgische Autor Thomas Depryck am Theater und Orchester der Stadt Heidelberg mit einem deutsch-belgischen Ensemble. „Unter Euch. Je promène ma mélancholie parmi vous“ (deutsch etwa: Ich lebe meine Melancholie unter Euch) ist die Geschichte einer jungen Frau, die den Boden unter den Füßen verliert. Die belgische Regisseurin, Schauspielerin und Autorin Suzanne Emond spürt den Leerstellen der europäischen Identität nach.  

Brüchig ist der Boden, auf dem sich die Akteur:innen bewegen. Bühnenbildnerin Lana Ramsay hat die Fläche wie auch den Bücherschrank und die Möbel mit einer eisig wirkenden Schicht überzogen. Alles um die Protagonistin Manon herum gerät ins Wanken. Diese Kälte prägt die Atmosphäre in Emonds Inszenierung, die Thomas Deprycks Kampf um eine eigene Sprache stark zeigt: „Ihre Sprache, dieses Deutsch, wehrt sich noch immer gegen mich, leistet Widerstand“, sagt Manon. Die Romanautorin, deren Identität sich über die Sprache definiert, fühlt sich alleingelassen in der Fremde. Dieser Konflikt treibt Depryck im Text um. In Belgien wird Deutsch, Französisch und Niederländisch gesprochen. Doch die Kulturen bleiben einander fremd. Das fordert auch den Übersetzer Frank Weigand heraus, der den Proben- und Schreibprozess in Heidelberg intensiv begleitet hat.

Wenn Sophie Frèrard Deutsch spricht, sind ihr französischer Satzbau und ihr Akzent nicht zu überhören. Das macht sie zu einer Ausgegrenzten. Besonders in Gesprächen mit ihrem Arzt ist dieses Nicht-Verstehen schmerzhaft. Er will sie in eine Therapie schicken. Doch das traut sie sich sprachlich nicht zu. Sie verlangt Beruhigungsmittel, die er ihr nicht gibt. Friedrich Witte zeigt den Arzt schroff, kalt und unfähig, sich auf die Patientin aus einer anderen Kultur einzulassen. Das gilt auch für Manons Schwägerin Kristina. Sie lebt als erfolgreiche EU-Beamtin in Brüssel, hat keine Probleme, auf internationalem Parkett durchs Leben zu tanzen. Nicole Averkamp zelebriert die Ignoranz ihrer Privilegien klug und offen. An diesen Menschen, die ihre Nöte nicht sehen, zerbricht Manon jeden Tag ein bisschen mehr.

Großartig spielt sich Sophie Frèrard in die Verzweiflung ihrer Figur hinein. Einerseits stößt sie bewusst an sprachliche Grenzen. Andererseits jongliert sie lustvoll mit Akzent und mit Missverständnissen. Sie rennt über die Bühne, übergibt sich der gespielten Angst und bleibt ratlos stehen. Ihr Körpertheater verleiht Deprycks Text eine weitere, tiefenscharfe Dimension. Suzanne Emonds Inszenierung lebt von den Augenblicken, in denen die Sprache nicht mehr wichtig ist. Dazu trägt auch Tobias Vethakes traumtänzerische Musik bei.   

Während sie mit ihrer Familie in Deutschland lebt, ist ihr Vater in Belgien geblieben. Der pensionierte Geschichtslehrer leidet an Demenz, verliert schrittweise Sprache und Erinnerung. Würdevoll und schön zeichnet Christian Crahay diesen Prozess nach. Dabei gelingt es dem Schauspieler, die Krankheit nicht nur als Fluch zu begreifen. Thomas Deprycks Stück ist dennoch kein Abgesang auf den europäischen Gedanken. In den Augenblicken der Liebe finden Manon und ihr Lebensgefährte Anton zu einer Kommunikation, die jenseits der Sprache liegt. Thorsten Hierse füllt diese Augenblicke zwischen den Liebenden mit berührender Sinnlichkeit aus.

Mit „Unter Euch“ kommt das Heidelberger Theater dem Gedanken eines europäischen Theaters ein gutes Stück näher. Die mehrsprachige Produktion öffnet den Horizont für eine kontinentale Identität, die in Zeiten des Rechtspopulismus immer mehr Menschen in Frage stellen. Dass Thomas Depryck, der 2016 den Internationalen Autor:innenpreis beim Heidelberger Stückemarkt gewann, mit der Produktion an das Haus zurückkehrt, ist besonders erfreulich. Es zeigt, wie erfolgreich das europäische Theater-Netzwerk ist, das der Heidelberger Intendant Holger Schultze und sein Team über die Jahre nicht nur mit dem Stückemarkt geknüpft haben. Diese nachhaltige Förderung von Autor:innen, die das Land Baden-Württemberg und zahlreiche Sponsoren möglich machen, ist für die Entwicklung einer innovativen europäischen und internationalen Dramatik unverzichtbar.

Erschienen am 28.2.2025

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