Theater der Zeit

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Aufruf

Maxim Gorki Theater: Justitia und das Staatsballett

„Prozess“ von Franz Kafka – Regie Oliver Frljić, Bühne Igor Pauška, Kostüme Jelena Miletić, Janja Valjarević, Choreografie Evelin Facchini

von Rebecca Preuß

Assoziationen: Theaterkritiken Regie Berlin Oliver Frljić Maxim Gorki Theater

Edgar Eckert in „Prozess“ von Oliver Frljić nach Franz Kafka am Maxim Gorki Theater. Foto Ute Langkafel MAIFOTO
Edgar Eckert in „Prozess“ von Oliver Frljić nach Franz Kafka am Maxim Gorki TheaterFoto: Ute Langkafel MAIFOTO

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„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn …“ Moment mal. Das haben wir doch schon unzählige Male gelesen, gehört und gesehen. „… denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Das große Kafka-Jahr – 100 Jahre sind seit dem Tod des Schriftstellers am 3. Juni 1924 vergangen – neigt sich dem Ende. Aus Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ extrahiert Oliver Frljić am Maxim Gorki Theater „Prozess“.

Schlagartig erlischt das Licht. Laute Ballettmusik reißt das Publikum aus den letzten regen Gesprächen. Hastig, aber synchron tanzen und springen Yanina Cerón und Marc Benner, die sich später als Wächter zu erkennen geben, zu Tschaikowskys „Nussknacker“-Suite über die Bühne, werfen ihre Beine in die Luft, wirbeln umeinander. Dann rasen sie zum linken Bühnenrand und schieben auf einer Krankenliege Edgar Eckert, seit dieser Spielzeit neu im Gorki-Ensemble, ins Scheinwerferlicht. Es fühlt sich an, als passiere das alles auf einmal.

Werkgetreu beginnt das Stück mit der Verhaftung Josef K.s (Edgar Eckert). Die beiden Wächter tragen die Uniform der Bedeutungslosigkeit: beige-braune Bundfaltenhosen, Hemden mit einem weiß-grau-schwarzen Farbverlauf und schwarze Korsette. Schwarze Hauben verbergen ihr Haar (Kostüme Jelena Miletić, Janja Valjarević). Der überrumpelte K. schreit seine Fragen nach der Berechtigung dieses Verfahrens hinaus. In einer Mischung aus Verzweiflung und Slapstick drehen sich er und die Wächter buchstäblich wie metaphorisch nur immer weiter im Kreis.

Das übergroße, aggressive Spiel der Figuren ist kennzeichnend für den gesamten Abend. Was in der folgenden Szene mit Lea Draeger als Aufseher noch passend erscheint, wirkt während K.s Begegnung mit Çiğdem Teke als Vermieterin Frau Grubach, die unerwartet energiegeladen und gleichermaßen erotisch-körperlich gegenüber K. auftritt, zum ersten Mal befremdlich. Atmosphärisch begleitet ein mächtiges Streichorchester K.s Suche nach dem Recht im Rechtssystem, die Frljićs Ensemble – man mag beinahe sagen – vertanzt (Choreografie Evelin Facchini).

Das Gesetz hat viele Gesichter und doch keins. Variationen der Beamtenuniform sind der Dresscode gegen die Individualität. Kostümwechsel gibt es nicht. Mal trägt der Gerichtsdiener das Jackett falschherum, praktisch als Zwangsjacke, denn die Angestellten des Gerichts sind doch nur die unterste Ebene des Apparats, weisungsgebunden und letztlich machtlos. Eine inkarnate Latexmaske mit langem Haar, unter der sich der Aufseher oder auch Fräulein Bürstner verstecken, macht das Spiel mit der Frage nach der Bedeutung von Persönlichkeit in diesem Bürokratiemonstrum perfekt.

Christiane Paul, Stargast des Abends, steht für Frljićs Inszenierung des kanonischen Romanfragments erst zum dritten Mal statt vor der Kamera auf der Theaterbühne. Als Fräulein Bürstner, Leni und Frau des Gerichtsdieners – alle fünf Schauspieler:innen neben K. haben mehrere Rollen – verkörpert sie gerade diejenigen Figuren, die kein unmittelbarer Teil des Gerichtswesens zu sein scheinen, jedoch immer wieder in das Geschehen eingreifen, es scheinbar (oder anscheinend?; da ist sich K. nicht so sicher) maßgeblich lenken.

Oliver Frljićs „Prozess“ überrascht überraschend wenig. Nachdem bereits der Ankündigungstext des Gorki-Theaters auf die Verbindung zwischen dem 75. Geburtstag des Grundgesetzes und dem Kafka-Jahr verwiesen hat, lag die Erwartung einer Abstraktion des Stoffes nahe. Humorig und rhythmisch spielen sich die sechs Darsteller:innen Kapitel für Kapitel durch die Reihenfolge, die Max Brod Kafkas fertiggestellten Fragmenten nach dessen Tod gegeben hat.

In der Schlussszene dann der lang erwartete Bruch mit dem Text: Auf einem monströs von der Decke hängenden Gitter thront wieder der Untersuchungsrichter, darunter erscheint ein neuer Angeklagter, es ist Franz Kafka selbst. Ob er wisse, wofür er angeklagt sei, möchte der Richter wissen. Für sein Schreiben über dieses schleierhafte Gericht müsse er sich verantworten, dabei hatte er selbst es doch nie veröffentlichen wollen.

So plätschert die eineinhalbstündige Darbietung der Gerichtsbeamten dahin, die mal in Pirouetten, dann steppend oder zu Elvis Presleys „Only You“ den schlichten Raum – kaum mehr als eine große Justitia-Statue und das besagte Gitter (Bühne Igor Pauška) – zu füllen wissen. Schön lässt sich die klassische Aufführung der literarischen Vorlage ansehen, eine neue Perspektive auf den zur Interpretation einladenden Stoff bietet sie nicht.

Erschienen am 24.9.2024

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