Theater der Zeit

Auftritt

Schauspielhaus Zürich: Etwas spüren

„Gier“ von Sarah Kane – Regie Christopher Rüping, Bühnenbild Jonathan Mertz, Kostümbild Lene Schwind, Musik Christoph Hart

von Anna Bertram

Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Sarah Kane Christopher Rüping Schauspielhaus Zürich

Wiebke Mollenhauer in „Gier“ nach Sarah Kane am Schauspielhaus Zürich. Inszenierung: Christopher Rüping.
Wiebke Mollenhauer in „Gier“ nach Sarah Kane am Schauspielhaus Zürich. Inszenierung: Christopher Rüping.Foto: Orpheas Emirzas

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Wie ein Spielfilmtitel kündigt sich der Abend flimmernd auf einer übergroßen, quadratischen Leinwand an. „Gier-Sarah Kane.“ Dazu gleich noch eine Vorahnung: Ein Streichtrio spielt „Love will tear us apart“ von Joy Division. Kanes Lieblingsband, wie sie mal in einem Interview erwähnte. Fünf Schauspieler:innen betrachten eine Weile die Leinwand und gehen daraufhin wie selbstverständlich in die erste Reihe ab.  Eine von ihnen, die Schauspielerin Wiebke Mollenhauer, bleibt auf der Bühne, nimmt Platz zwischen ein paar Beleuchtungsstativen und einer Kamera. Dann erscheint ihr Gesicht auf dieser riesigen Leinwand. Das Bild ist gewaltig, in der hochaufgelösten Nahaufnahme ist jeder Zahn, jede Falte, jede Regung sichtbar. Bleibt wie ein überdimensionales Passfoto in Erinnerung. Willkommen in der Welt der Bilder. 

Die Frau wird vor der Kamera sitzen bleiben. Und es wird auch sie sein, die den Text von Sarah Kane illustriert und trägt. Er ist das vorletzte Theaterstück der britischen Autorin, wurde 1998 veröffentlicht. Das ist ein Jahr vor ihrem Suizid. Und wie all ihre fünf Dramen erschafft dieser Text eine unbestimmte Fläche zwischen Grausamkeit und Zärtlichkeit. Er zeugt von einer Suche nach Liebe und Nähe, die nicht anders kann, als immer wieder in Gewalt und menschlichen Abgründen zu münden. „Gier“ bezeugt den schmalen Grat zwischen Intimität und Übergriff, Nähe und  Missbrauch. A, B, C und M sind die Charaktere, und sie bleiben in dem Stück genauso identitätslos wie Raum und Zeit der Handlung. Ihre Stimmen werden an diesem Abend mal gesprochen, gespielt oder – wie jetzt – von einem Röhrenfernseher abgelesen. Das Publikum sieht Wiebke Mollenhauer beim Rezipieren zu. Und bekommt unendliche Bedeutungen, Gefühlsanregungen und Identifikationsflächen angeboten. 
 
Was nämlich ab da passiert, bewegt sich zwischen großem Gefühlskino und ständigen Realitätscheck.Ohne dass es je spricht, blicken wir auf dieses riesige Gesicht, das durchlebt und durchleidet. Wir sehen eine Person auf dem Bildschirm, die reagiert, lacht, weint, verzweifelt. Die Sarah Kanes Text erleidet und ihn verstärkt, indem sie ihn bebildert. Die Emotionen kicken gut, denn Wiebke Mollenhauer zieht alle Register der Schauspielkunst und -technik. Sie wird zu einem unendlich semiotischen Raum, der mal ganz naturalistisch, dann wieder völlig überzogen mimetisch, ja pantomimisch gestaltet wird Und als noch die Streichmusiker:innen und der DJ, der neben der Bühne steht und Livesound mischt, die Mimik mit warmen Klängen und elektronischen Beats untermalen, kann man sich dieser Ästhetik der Gefühle kaum noch entziehen. Sie überwältigt. 
Doch etwas stimmt nicht. Etwas hindert an einem Einlassen auf die großen Gefühle, etwas bremst die Empathie ab. Denn da steht er, der Produktionsapparat, direkt neben der großen Leinwand. Spinnenartig und bedrohlich umzingelt er die Schauspielerin, die für uns durchgehend intensive Gefühle produziert. Und plötzlich wird klar: Nein, das ist nicht wirklich. All das ist inszenierter Content. Ein Medientrick, der unseren Blick lenkt. Denn im Hier und Jetzt sehen wir, dass der Körper der Frau auf der Bühne unbewegt bleibt, fast schon ohnmächtig dort sitzt. Da ist keine Gestik, die mitlebt, ja es scheint, als würden Körper und Mimik dissoziieren. Man kann nicht mehr mitfühlen. Es ist alles nur Effekt. Die Tränen und Gefühlsregungen, sie erscheinen jetzt wie Schauspielübungen nach Stanislawski. Alles ist sichtbar, alles wird gemacht. Wir können der Schauspielerin nicht einmal ohne den Bildschirm ins Gesicht blicken, so wie sie seitlich zum Publikum positioniert ist. Unser Blick existiert nur noch über die digitale Reproduktion. 
 
Und so bleibt das Schmerzhafte an diesem Abend, dass man gar nicht fühlen kann oder zumindest merkt, dass diese Nähe gleichzeitig eine Gewalt ist. Sie ist keine echte, sondern Produkt eines Mediums. Während Kanes Text in große Gefühle übersetzt wird, kann sich die Schauspielerin gar nicht in der Welt mit verhalten, nicht sprechen, nicht aufstehen. Sie kann nur reagieren. Liefert Content und füttert unseren Wunsch, endlich mal wieder zu fühlen. Irgendwann wird sie geschminkt, wird zu Britney - es läuft „Toxic“ im Playback - und bewegt ihre Lippen synchron zum Song. Und wir? Können nicht anders, als dort zu sitzen und zuzusehen, wie das Make-Up im Gesicht verschmiert und das, was wir betrachten, zum Konsumgut wird. Es bleiben alle gefangen. Die Figuren aus Kanes Text in ihrer Suche nach Liebe. Die Frau vor der Kamera in ihrer Rolle der ständigen Produzentin von Empfindungen. Und wir? Sind verloren in unserem Begehren zu spüren. Drehen uns mit im Fleischwolf der Medienindustrie, der sich als eine totalitäre Gewalt wie eine trübe Fläche über den Abend legt.  

Wir werden selbst zu Täterinnen, manche von uns vielleicht ohne, dass sie es merken. Christopher Rüping baut eine Medienkritik, lässt uns die brachiale Gewalt von Ästhetik, Medien und Blicken im digitalen Zeitalter erfahren. Er illustriert die verzweifelte Suche nach Effekt und den großen Regungen und Empfinden in einer kaputten Welt. Der Abend selbst aber nimmt auch Abstand vom Schmerz, von Sarah Kane und ihrer Welt. Er will nicht fühlen, lässt sich auf die Abgründe nicht wirklich ein. Und wird so letztlich auch zum Medium, das an der Oberfläche bleibt und den Umgang mit Schmerz verlernt hat. Am Ende gibt es sogar eine Befreiung. Wiebke Mollenhauer wird mündig, verlässt die Bühne, ja sogar das Theater. Befreiend ist dieser Moment vielleicht weil man dachte, die Befreiung müsse der Darstellerin noch zugestanden werden. Vielleicht aber auch, weil man sie sich selber wünscht, die Erlösung. Die Schauspielerin, sie taucht ins eiskalte Wasser. Und bleibt vielleicht die Einzige an diesem Abend, die wirklich etwas spürt.

Erschienen am 15.3.2023

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