Freie Szene
Wilder Wermut
Das Penghao Theater und ich – Über das erste Privattheater Chinas
von Wang Xiang
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: China (12/2015)
Assoziationen: Asien
Im Jahr 2008 investierte ein normaler chinesischer Bürger eine Million RMB (ca. 140 000 Euro) in ein Beijinger Hofhaus und gründete das erste Privattheater Chinas. Er nannte es Penghao-Theater, wörtlich Wilder Wermut, nach einem Gedicht von Li Bai, in dem mit „Penghao-Menschen“ gewöhnliche Menschen bezeichnet werden. Er hoffte, dass jeder chinesische Bürger, jeder gewöhnliche Mensch das Recht und die Chance hat, ins Theater zu gehen und zur Kunst zu finden. Dieser normale Bürger war ich, Wang Xiang, Zahnarzt von Beruf. Warum möchte ein gewöhnlicher Mensch, ein Zahnarzt, so ein Theater gründen? Meine Antwort lässt sich in einem Satz zusammenfassen: um Widerstand gegen die Angst zu leisten.
Zwar bin ich Arzt, doch seit jeher liebe ich die Literatur und das Theater. In der Vergangenheit baute ich mein Haus zu einem Probenraum um und gründete den ersten Beijinger Theaterclub, wo Laienschauspieler Theater aufführten. Meine Überzeugung ist: Die Literatur ist wie eine Mutter, die bildende Kunst wie ein Vater, und ihr schönstes Kind ist das Theater. Es kann nicht nur Geschichten und Formen erzählen, sondern auch vom wichtigsten Aspekt des Lebens – den Gefühlen. Durch das Theater erhalten die Menschen die Fähigkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen. Doch bis zum Jahr 2008 hatten sie dazu in China nahezu keine Möglichkeit.
Hunderte von staatlichen Theatern zeigen entweder Transplantate ausländischer Klassiker oder führen weiterhin Propagandastücke auf; es fehlt an Originalität. Und die neu aufkommenden privaten Theatergruppen werden zu Unternehmen erklärt, die Gewinn bringen sollen. Um zu überleben, müssen sie die Gebote der Wirtschaft und vulgärer Unterhaltung erfüllen. All dies irritierte mich zutiefst. Unter den abwehrenden Blicken alter Beijinger suchte ich 2008 ein ganzes Jahr lang, bis ich endlich ein altes Hofhaus fand. Die Gebäude wurden zu Umkleideraum, Probenraum, Kasse und Café. Der Innenhof wurde mittels einer Stahlkonstruktion zu einem Blackbox-Theater mit 86 Sitzplätzen umgebaut.
In den vergangenen sechs Jahren geschahen in diesem kleinen Raum viele warmherzige, lebendige und schöne Dinge. Wie bei einer Kernfusion entstand eine riesige Energie zwischen den Menschen, zwischen ihren Leben. Es gab über 2000 Aufführungen des Penghao- Theaters, über 1000 Workshops, Foren, Vorträge, Lesungen von Theaterstücken und Literatur, über 300 Inszenierungen. Davon waren mehr als 30 Produktionen des Penghao-Theaters und über 80 Koproduktionen. Mehr als 100 Inszenierungen, Workshops und Vorträge waren eingeladen aus Frankreich, Deutschland, Schweden, Israel, Dänemark, Japan, England, der Tschechischen Republik, Polen, Italien, der Schweiz usw. Sechsmal fand das Theaterfestival der Nanluogu-Gasse in Beijing statt, dieses wurde mittlerweile zum zweitgrößten Theaterfestival Chinas, bei dem alljährlich mehr als 40 Inszenierungen zu sehen sind, davon zwei Drittel aus dem Ausland. Zudem gibt es Vorträge, Workshops und Foren.
Obwohl das Penghao-Theater vom Beijinger Bezirk Dongcheng finanziell unterstützt wurde, gab es jedes Jahr eine finanzielle Lücke von über 700 000 RMB (ca. 98 000 Euro), die ich füllen muss. Woher das Geld kommt? Von meinem Hauptberuf natürlich, dem Gewinn aus meiner Zahnarztpraxis. Mein tägliches Leben teilt sich in zwei Teile, am Vormittag bin ich in der Praxis, nachmittags und abends im Penghao-Theater. Ohne meine Praxis gäbe es kein Penghao-Theater.
Am Anfang waren die größten Probleme technischer und administrativer Natur (Genehmigungsverfahren, Aufführungserlaubnisse usw.). Doch schwieriger als die Verwaltung ist die Gesellschaft (neue Dinge werden von den Menschen oft nicht verstanden). Und noch schwieriger als die Gesellschaft ist das künstlerische Team, unsere eigenen Leute. Die staatlichen Ensembles machen selten Produktionen, die sich wirklich mit den Menschen beschäftigen, die Wärme bringen, Gewicht haben und lebendig sind. Mangels der staatlichen und gesellschaftlichen Unterstützung bleibt einigen fähigen Künstlern nichts anderes übrig, als sich dem Kommerz zu beugen. In dieser Situation gab ich meine „Penghao- Erklärung“ ab: für die Literatur, für die Vernunft und für die Lebendigkeit.
Im März 2009 führten wir unsere erste eigene Produktion auf, das Stück „Die Gesichtszüge des Mädchens von der Seine“ (Sainahe shaonü de mianmo). Danach produzierten wir die Stücke „Auf der Suche nach einem Dramatiker“ (Xunzhao juzuojia), „Seelenküche“ (Linghun chufang), „Keine Zeit“ (Gubushang) usw.
Das Penghao-Theater ist der Form und den Inhalten nach ein unabhängiges Theater. Um den Druck von den Künstlern zu nehmen, wird keine Miete kassiert, die Einnahmen werden geteilt, Stücke werden streng ausgewählt. Zahlreiche szenische Lesungen und das Programm „Neue Einheiten“ wurden ins Leben gerufen, um junge Theatertalente zu unterstützen. Das Penghao- Theater ist jetzt eine der wichtigsten chinesischen Plattformen für den internationalen Austausch. Ein Fünftel der Aufführungen stammen von ausländischen Künstlern. Meine Auffassung ist: Für den internationalen Theateraustausch sind Vorträge und Workshops wichtiger als Aufführungen. Diskussionen über Kulturpolitik und das Wesen der Theaterkunst sind wichtiger als Vorträge und Workshops zu Theatertechniken.
Oft überlege ich: Warum gibt es zwischen den Menschen und Dingen auf dieser Welt so große Unterschiede? Zurzeit wird in China eine Kampagne gegen die Korruption geführt, und die Beamten, die dabei festgenommen werden, haben oft mehrere Hundert Millionen RMB unterschlagen. Wie kann es sein, dass ein Theaterfestival, auf dem Dutzende internationale und chinesische Inszenierungen aufgeführt werden, das den Menschen in China so viel schöne geistige Kultur und Wärme bringt und das 1,8 Millionen RMB (ca. 253 000 Euro) kostet, nur von einem chinesischen Bürger, nämlich Wang Xiang, und einem privaten Freund, einem anderen chinesischen Bürger, Xu Xiaoping, finanziell unterstützt wird?
Ich habe gleichzeitig zwei Berufe gut zu machen, zum einen manage ich drei Zahnarztpraxen mit über 40 Ärzten und Krankenschwestern, zum anderen erledige ich unzählige Angelegenheiten des Penghao-Theaters und des Theaterfestivals in der Nanluogu-Gasse. Durch die ständige Überlastung leide ich an einer Herzkrankheit. 95 Prozent der Herzkranzgefäße waren verstopft, in zwei Operationen wurden sechs Stents eingesetzt. Warum ich das alles mache? Zu Beginn, um frei von Angst und Bedrängnissen zu sein. Später wurde es zu einer Verantwortung. In seinem Leben ist der Mensch nicht allein; nur wenn es seiner Umgebung, wenn es seiner Nation besser geht, wird es ihm auch besser gehen.
Von 2009 bis 2015 hat das Penghao-Theater dem Dongcheng-Bezirk, dem Kulturbüro der Stadt Beijing und dem chinesischen Kulturministerium Dutzende von Vorschlägen unterbreitet, wie Kultursubventionen für private Theaterensembles eingerichtet werden könnten. Außerdem wurde ich stellvertretender Generalsekretär des Dramatikerverbandes im Dongcheng-Bezirk und trug dazu bei, dass Richtlinien über öffentliche Subventionen für Theater eingeführt wurden, so dass private Theater und Ensembles aus dem Dongcheng-Bezirk finanzielle Unterstützung erhalten. Dies ist die erste kulturpolitische Regelung in der Geschichte Chinas, die private Theater unterstützt.
Doch die Regierung von Dongcheng ist nur eine von vielen in Beijing. Eine von ihr eingeführte kulturpolitische Regelung kann sich nicht auf staatliche Finanzgesetze stützen, sie kann somit von höherer Ebene jederzeit widerrufen werden. Zudem gelten private Theatergruppen in China von vornherein als profitorientierte Geschäftsorganisationen und müssen sich als solche registrieren lassen. Die Folge davon ist, dass sie nicht um öffentliche Unterstützung ersuchen können. So unterbreitete ich im Jahr 2014 in einem weiteren Schritt dem chinesischen Kulturministerium „Acht Vorschläge zur Behandlung von privaten Theatergruppen als gemeinnützige Non-Profit-Organisationen und zu baldigen staatlichen Subventionen“. Bisher erhielt ich noch keine konkrete Antwort. Also kann ich nur fleißig allein weitermachen.
Solange unser Leben weitergeht, solange es noch ein bisschen Hoffnung gibt, müssen wir durchhalten. //