Theater der Zeit

Thema

„Dieses Material erschöpft sich nie“

Theaterarbeit mit Eis

Das Material ‚Eis‘ steht in vielen Theaterarbeiten von Élise Vigneron, der Gründerin der Compagnie Théâtre de l'entrouvert, im Zentrum. Sie hat mit diesem Material einen Weg gefunden, transformative Zustände in eine poetische und offene Theatererzählung zu übersetzen. Ihre konzeptionelle Basis ist die sensible Kommunikation des Menschen mit seiner materiellen Umwelt.

von Élise Vigneron

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Akteure Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Material im Figurentheater

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Ich habe meine Kindheit inmitten der Natur verbracht, nahe an den Elementen. Das hat meine Imagination genährt. Die Beziehung zu organischen Materialien und die Frage nach der Wahrnehmung der Zuschauer*in standen schon immer im Zentrum meiner Arbeitsweise. Während die Materialien zu Beginn aufgrund ihrer plastischen Qualität und ihrer poetischen Aufladung die Form einer Installation annahmen, so verdanke ich es den Führungstechniken des Figurentheaters, dass ich lernte, Materialien als animiert zu verstehen. Ich habe daher versucht, zu erforschen, wie die verschiedenen Transformationszustände des Materials eine metaphorische Sprache erschaffen, in der die Bedeutung und die Form sich vereinen. Das Material steht im Zentrum der Dramaturgie, sich ständig verändernd begrenzt es sich nicht auf einen Körper, sondern dehnt sich aus und wird zu einer vergänglichen Landschaft. Die sinnliche und unvermittelte Wahrnehmung der Zuschauer*in findet so in ihrem Körper statt und bleibt offen für die individuelle Interpretation.

Diese Vorgehensweise beinhaltet, dass das szenische Dispositiv und die Wahrnehmungsweise – Bühnenwege, immersive Form, zirkuläre oder frontale Anordnung – immer von der Konzeption des Projekts ausgehen.

Wenn auch meine Vorgehensweise grundsätzlich plastisch ist, so ist die Inszenierung des Materials doch immer von einem geschriebenen Text inspiriert – von einem Roman oder von Gedichten. Es sind die Gedichte des norwegischen Dichters Tarjei Vesaas, die mich dazu gebracht haben, mit vergänglichen Materialen zu experimentieren. So haben meine ersten Experimente mit Eis begonnen. In den Stücken „Anywhere“, angelehnt an „Ödipus“ von Henry Bauchau, und „l’Enfant“, eine Bearbeitung von Maurice Maeterlincks „La Mort de Tintagiles“, reflektieren die Transformationen des Materialzustands die inneren Zustände, die die Theaterfiguren durchlaufen. So sind etwa in „Anywhere“ die Transformationen der Eis-Figur das Abbild der inneren Transformationen von Ödipus – eine gestürzte, empfindliche und brüchige Figur, die nach und nach schmilzt, um sich wie eine Lichtgestalt im Nebel zu verflüssigen.

Heute stehen die Forschungen rund um die Animation des Materials vollständig im Einklang mit dem Denken zeitgenössischer Anthropologen und Philosophen wie Baptiste Morizot, Vinciane Despret, Emanuele Coccia etc … Während wir bis eben noch in einer dominanten Position gegenüber der Natur waren, den Tod negierend, so hat die durch uns selbst verursachte Bedrohung unserer eigenen Art uns dazu gebracht, unser Verhältnis zur Natur gemeinsam zu überdenken.

Es entstehen neue Kosmologien. Die Inszenierung von organischen Materialien erlaubt es uns, unsere Existenz in einem natürlichen Zeitzyklus zu begreifen: Wir machen die Erfahrung, ein Teil der unendlichen Materie der Welt zu sein, wir fallen zusammen mit ihrem Fleisch, ihrem Atem. So können wir eine direkte Beziehung sehen zwischen der animierten Materie und dem zeitgenössischen animistischen Denken.

In Japan benennt man die Schönheit der Endlichkeit, die Empathie mit dem Sein des Vergänglichen „mono no aware“. Weil das Eis die Besonderheit hat, seine Zustände von fest zu flüssig zu gasförmig zu verändern, gibt es diesem Begriff der Endlichkeit eine Form und erzeugt eine empathische Beziehung. Im Angesicht von Eisskulpturen, die unter unseren Augen schmelzen, fühlt es sich an, als würden unsere eigenen Körper sich verflüssigen. Über die direkte Beziehung zwischen dem Eis und der Klimaerwärmung hinaus hat dieses Material die Fähigkeit, uns sensibel zu machen für das Phänomen der Instabilität und Zerbrechlichkeit, das von unserer westlichen dominanten Gesellschaft zurückgedrängt und dennoch unabdingbar für das Lebendige ist.

Ich entwickele gerade einen neuen Zyklus über das Eis, der drei künstlerische Konzepte artikuliert: die Produktion „Glace“, ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt, das meine Recherchen mit denen einer Glaziologin in Dialog bringt, das Stück „Lands, habiter le monde“, eine kollektive Arbeit mit Landbewohnern, ausgehend von ihren Fußabgüssen in Eis, und schließlich die nächste Produktion „Les Vagues“, nach Virginia Woolfs „The Waves“ mit fünf lebensgroßen Puppen aus Eis. Dieses Material erschöpft sich nie und bei jedem Projekt eröffnen sich neue Möglichkeiten. – Aus dem Französischen von Meike Wagner

www.lentrouvert.com

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