SCORES – Insert Tanzquartier Wien
Opening (Stadt) Parcours
Ein Herbst, eine Jugend
von Anna Mendelssohn
Erschienen in: Theater der Zeit: Jammer und Glorie – Der Regisseur Krzysztof Warlikowski (12/2014)
Assoziationen: Österreich Tanz
Meine Großmutter wurde 1911 noch in der Habsburgermonarchie geboren. 1936 emigrierte sie im Alter von 25 nach England. In den Jahren dazwischen erlebte sie in ihrer Kindheit und Jugend den Zerfall der Monarchie, die gelebte Utopie des Roten Wien, deren Zerschlagung durch den Austrofaschismus und das Aufkeimen des Nationalsozialismus. Sie sah ihren Vater von der Front heimkehren, studierte Philosophie an der Wiener Universität und diskutierte sich durch verrauchte Nächte in den Wiener Literatencafés. Meine Großmutter war von Beruf Schriftstellerin. In ihrer Autobiografie und ihren zahlreichen Essays finde ich viele Eindrücke und Beobachtungen aus dieser Zeit, sogar ein ganzes Buch mit dem schönen Titel Glanz und Untergang, Wien 1866 bis 1938. Ich schlage es auf und sehe meinen Namen – sie hat es ihren drei Enkeln gewidmet. Ich beginne in Hildes Erinnerungen zu lesen, zu schlendern, und stolpere dabei über meine eigene Kindheit.
»Ich sah noch von einem Erkerfenster in der Wollzeile, den Leichenzug des alten Kaisers vorübergleiten wie ein Schattenbild, und die Frauen um mich, deren Männer im Felde standen, weinten. Wozu gehörte man?«
Österreich: das ist die Geschichte, in die wir beide eines Tages eingetreten sind. Du, liebe Hilde, in »Fanny’s Salon und die Abendgesellschaften der Josefine von Wertheimstein, Pulverdampf von Solferino und Königgrätz«. Ich, in die Sommerlager der Kinderfreunde, Schulausflüge nach Mauthausen und die drängende Frage, ob man nicht eigentlich auswandern müsste, aus einem Land in dem ein Waldheim zum Bundespräsidenten
gewählt wurde und in dem schon wieder »Juden raus« auf den Gemeindebau direkt gegenüber von uns geschmiert wurde. Monate hat es gedauert bis die Spraybuchstaben und das riesige Hakenkreuz endlich entfernt wurden.
Für uns beide bestehen die Kindheitserinnerungen aus »Schlittenfahrten und vereisten Hohlwegen, aus den heißen Brettern eines Bootshauses am See«, für dich, »in den Dreißiger Jahren und im Vorjahr, aber niemals heute« – wie du in den frühen 80ern schreibst – »niemals Jetzt, denn das Jetzt« scheuchst du von dir, »mit seinen bösen, hinkenden alten Frauen, seinen fluchenden Autofahrern, die sich an die Stirne tippen, seinen feixenden Literaten, die in allen Ecken ihre Pfauenräder drehen«. Liebe Hilde (niemals Oma!), scheuch es nicht ganz fort, dieses Jetzt, denn es soll irgendwann meine Kindheit und Jugend gewesen sein, in der ich, selbst etwas unansehnlich, plump und vorpubertär, mit dir und Thomas Bernhard Brathendl am Cobenzl gegessen habe.
Oder mich, einige Jahre zuvor, aber long after my bedtime, an dich geschmiegt habe, in einer Abendgesellschaft, wohl auch eine Art Salon, bei der André Heller Lieder gesungen hat und du, mit einem kleinen Glas Rotwein in der Hand, und immer die Grande Dame, im Sessel throntest.
Wie oft werden unsere Erinnerungen tatsächlich von Fotografien geformt? Ich sehe das Foto nochmals an und merke – es war kein Rotwein, es war Orangensaft.