Nachruf
Die Fähigkeit zuzuhören
Eine Erinnerung an die Dresdner Dramaturgin Karla Kochta
von Beate Seidel
Erschienen in: Theater der Zeit: Bühne & Film – Superstar aus Neustrelitz (01/2023)
Assoziationen: Akteure Karla Kochta Staatsschauspiel Dresden
Es war 1988 ein Glücksfall für mich, in die Dresdner Dramaturgie engagiert zu werden. Karla war mir als Dramaturgin von Christoph Heins „Passage“, inszeniert von Klaus-Dieter Kirst, ein Begriff. Ich hatte die Aufführung bei der Theaterwerkstatt-Leistungsschau gesehen und war nachdrücklich beeindruckt. Auch Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“ in der Regie von Irmgard Lange glich einer Initialzündung. Welche Diskussionen Theater anzustiften, wie es, ohne sich nie simpel dem Mainstream unterzuordnen, politisch klug Haltung zu zeigen vermochte, erlebte ich in dieser Aufführung hautnah. Und die Dramaturgin dieser Inszenierung hieß Karla Kochta.
Karla, Jahrgang 1949 und seit 1972 am Staatsschauspiel Dresden engagiert, war eine „dramaturgische Instanz“. Verbunden mit den Regisseur:innen dieses Theaters, Horst Schönemann, Wolfgang Engel, Irmgard Lange, vor allem aber Klaus-Dieter Kirst, mit dem sie eine enge Arbeitspartnerschaft verband, war sie eine Ansprechpartnerin für das Schauspielensemble und Ideengeberin innerhalb der Dramaturgie. Es waren aufregende und im Rückblick aufgeregte Zeiten. Karla Kochta beanspruchte dabei, trotz ihrer Erfahrung nie die Wortführerin der Diskussionen zu sein. Behutsam, eher mit kluger Zurückhaltung bezog sie ihre Position.
Nun, so viele Jahre später, gebe ich ihr darin recht: Die ständige Befeuerung der allgemeinen Aufregung führt zum Verlust eines differenzierten Blicks. Das Staatsschauspiel Dresden hatte in diesen Jahren 1988/89 einen herausfordernden Spielplan. Er eröffnete den Raum für jenen Austausch, der woanders noch nicht stattfinden durfte. Und einer der Höhepunkte sollten „Die Ritter der Tafelrunde“ von Christoph Hein sein. Regie: Klaus Dieter Kirst; Dramaturgie: Karla Kochta.
Hein entwirft darin den zähen Untergang der einst heldischen Ritterrunde um König Artus, die an sich selbst und an ihrer Unfähigkeit zur Veränderung zerbricht. Karla hatte gemeinsam mit Kirst diese Uraufführung, um deren Brisanz alle im Theater wussten, akribisch vorbereitet. Unzählige Briefe waren zwischen Theaterleitung und Bezirksleitung der SED gewechselt worden, eine Voraufführung stand ins Haus, von der wir wussten, wer die Besucher und Besucherinnen dieser Aufführung sein würden. Die Ledermantelfraktion rückte an. Unser damaliger Intendant Gerhard Wolfram hatte uns darum gebeten, die provokante Doppelbödigkeit des Textes während der Vorstellung möglichst neutral zur Kenntnis zu nehmen, um nur ja keine Angriffsfläche für ein Verbot zu liefern. Denn dass dieses Theaterstück von Christoph Hein eine offene Kritik an der Staatsmacht der DDR war, lag auf der Hand. Die Aufführung verlief ohne Unterbrechung vor einem Pflichtpublikum, das auf einen Eklat zu warten schien, der nicht eintrat –mit dem Ergebnis, dass das Stück zur Premiere gebracht werden konnte. Erst später verstand ich, dass genau dieser ästhetische Zugriff die Uraufführung „gerettet“ hatte und dass das Publikum gar keiner anderen Übersetzungsleistung bedurfte. Dieses Stück, das wohl mehr als einhundert Mal lief, gehört zu den Legenden der sogenannten friedlichen Revolution.
Die Uraufführung der „Tafelrunde“ in Karla Kochtas dramaturgischer Betreuung hat Theater- und Politikgeschichte geschrieben. Geringer möchte ich ihren Verdienst nicht ansetzen, denn er war geknüpft an unzählige Publikumsgespräche in jenen Tagen, in denen der Zweifel am und die Verzweiflung über den „realen Sozialismus“ sich offen artikulierte. Was in diesen Gesprächen gebraucht wurde, war die Fähigkeit zuzuhören. Karla Kochta konnte das.
Natürlich vermag die kurze Erinnerung an zwei aufregende Jahre dem langen Berufsleben von Karla Kochta überhaupt nicht gerecht zu werden. Karla Kochta war ja nicht nur Dramaturgin, sie schrieb Kinderstücke, Opernlibretti, sie begleitete als Mentorin oft jene, die ihre ersten Schritte in dem Theater wagten, dem sie mit beeindruckender Kontinuität treu blieb.
Karla Kochta starb am 6. November 2022.