Theater der Zeit

fokus: landesbühnen

Wir fahrn, fahrn, fahrn …

Wer an Landesbühnen arbeitet, muss vor allem eines lieben: Theater zu spielen, egal wo. Doch zu welchem Preis? – Wir haben Mitglieder des Ensemble-Netzwerks befragt

von Julia Glasewald, Katharina Heißenhuber, Regina Vogel, Marie Förster, Raphael Westermeier und Patrick Schnicke

Erschienen in: Theater der Zeit: Götterdämmerung – Polen und der Kampf um die Theater (10/2017)

Assoziationen: Akteure Badische Landesbühne Landestheater Tübingen (LTT) Landestheater Schwaben Hessisches Landestheater Marburg Burghofbühne Dinslaken

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Julia Glasewald (Hessisches Landestheater Marburg): Ich empfinde das Landestheater als das schutzbedürftigste Tier unter den drei Theater-Betriebsapparaturen der Staats-, Stadt- und Landestheater. Das Konzept des Landestheaters, dass nicht nur der Zuschauer ins Theater kommt, sondern das Theater auch zum Zuschauer, ist in meinen Augen eigentlich ein sehr moderner Ansatz, weil er so mobil und flexibel ist.
Leider geht im Landestheater-Alltag unterwegs im Bus zum Spielort oft ein bisschen Kunst verloren: So sind Bühnenbilder mitunter für die große Stadthalle am Hauptsitz entworfen, am Spielort ist der Raum dann aber viel kleiner oder atmosphärisch ganz anders. Da kann es schon mal vorkommen, dass sich ein Schauspieler auf der zweiten Ebene eines Hauses den Kopf am Scheinwerfer stößt.
Wie wäre es, wenn es ein kleines Zehn-Punkte-Dogma für Landestheater geben würde – mit extra Regeln für das Herumfahren, die die Kunst auf Gastspieltouren beschützen würde?

Marie Förster (Burghofbühne Dinslaken): Landestheater sind abhängig von Buchungen. Aufgrund von Budgetkürzungen und einem generell hohen Druck auf die Theater müssen möglichst viele Vorstellungen verkauft werden. Das kann zur Verkürzung von Probenzeiten führen. Zudem müssen die Produktionen lange im Voraus verkauft werden – oft bevor die Probenarbeit begonnen hat. Das bedeutet, dass sich die Inszenierung dann mitunter nach den Bedingungen an Bespieltheatern richten muss.
Das Maß an Kraft, die es aufzubringen gilt, um eine hohe künstlerische Qualität zu gewährleisten, ist an einer Landesbühne höher, da die Rahmenbedingungen oft schwerer sind als an Stadtoder Staatstheatern. Einige Landesbühnen haben aus Kostengründen weder eine eigene Bühne noch Garderoben, Maskenbildner, Kantinen, Pförtner … Das bedeutet mitunter für Schauspieler: Umziehen auf Toiletten, Premieren in Schulaulen, sich selbst schminken, keinen Rückzugsort vor/nach einer Probe etc.
Fahrtzeiten sind offiziell keine Arbeitszeiten. Dies gilt laut NV-Bühne. Bei Abstechern kann der Ruhezeit maximal eine Stunde zugerechnet werden. Glücklicherweise sind die meisten Landestheater da noch etwas flexibler.
Zu den Vorteilen, die für mich überwiegen: Wenn eine Landesbühne ausgestattet ist mit frischen, energiegeladenen, inspirierten Menschen, kann die Erfahrung, hier zu spielen – besonders für Anfänger – ein Geschenk sein. Eine Landesbühne weist einen hohen Zusammenhalt auf – verbunden mit einem wachsenden Verständnis für alle, die in anderen Bereichen am Theater arbeiten (zum Beispiel in den Gewerken, der Technik, Dramaturgie, Regie, Assistenz etc.). Es entsteht eine Gemeinschaft, die mit gemeinsamen Zielen und Idealen arbeitet.
Gerade als Absolvent hört man immer wieder, dass man sich „frei spielen“ soll im Erstengagement. An einer Landesbühne passiert das. Einen übertriebenen Perfektionismus oder die Unsicherheit, auf einer großen Bühne zu stehen, wird man hier verlieren, wahrscheinlich sogar bewusst ablegen. Daraus entstehen eine Kraft und eine Kenntnis der eigenen Mittel, die den Schauspieler auch auf dem Weg an andere Theater begleiten werden.
Wer unter schwierigen Bedingungen Theater macht, muss es lieben. Man arbeitet also in der Regel mit Menschen zusammen, die das tun. Einige erfolgreiche Regisseure beispielsweise kehren zwischendurch bewusst an kleine Häuser zurück, weil dort der Wille herrscht, aus wenig viel zu machen. Die Hindernisse sind größer, das erfordert Willenskraft. Und bringt eine Liebe zur Sache mit sich, die unabhängig von Gedanken an Karriere und Prestige existiert.

Katharina Heißenhuber (bis September 2017 Badische Landesbühne Bruchsal): Ganz grundsätzlich ist meine Sicht auf zwei Jahre an der Landesbühne Bruchsal sehr gemischt. Das Pensum, das wir Schauspieler dort zu bewältigen haben, ist immens. Wir sind bei achtzig Prozent der Vorstellungen mit dem Bus zum Spielort unterwegs, sodass es ein Genuss ist und sehr erholsam, am Haus in Bruchsal zu spielen.
Meine schönsten Erlebnisse und gleichzeitig die schwierigsten Vorstellungen sind die Abstecher während des Sommerstücks, die, wenn das Wetter passt, unter freiem Himmel stattfinden. Die Spielorte sind sehr beeindruckend, da wir Burgruinen oder historische Plätze bespielen und man dann ein Gefühl für das geschichtliche Erbe dieser schönen Gegend, des Kraichgaus, bekommt.
Solche Spielorte bringen aber auch Probleme mit sich: improvisierte Umkleiden, eine große Hitze auf der Bühne oder Toiletten, die meist rar oder der Entfernung wegen während der Vorstellung gar nicht zu erreichen sind. Das mag lapidar klingen, kann aber während einer stressigen Vorstellung schon sehr bedeutend sein.
Ein Austausch mit dem Publikum, also eine größere Nähe zum Publikum, ist durch die vielen Vorstellungen außer Haus kaum möglich. Eher im Gegenteil. Die Fahrtzeit mit dem Bus zum Spielort ist meist so knapp berechnet, dass man, je nach Maskenzeit, nur eine kleine Verschnaufpause hat, die auch dafür genutzt werden muss, um sich die Gegebenheiten vor Ort, wie etwa die Bühnengröße mit dem individuell angepassten Bühnenbild, anzuschauen. Ein Nachgespräch ist im Grunde nicht machbar.
Mein größter Kritikpunkt ist jedoch die dünne finanzielle Decke, die eine Landesbühne wie Bruchsal trägt. Aus meiner Sicht muss die Theaterleitung zu viel Energie und Zeit darauf verwenden, den 16 Trägergemeinden immer wieder die eigene Arbeit und die Notwendigkeit des Theaters in Erinnerung zu rufen. Eine Tariferhöhung bringt die Finanzen zum Zittern. Das Land Baden-Württemberg müsste sich hier stärker einbringen und die Bühne auf ein solides finanzielles Fundament stellen, sodass eine Tariferhöhung oder ein eventuelles Schwanken einer Mitgliedsgemeinde nicht umgehend zu einer großen Zukunftskrise für das Badische Landestheater führt.

Regina Vogel (Landestheater Schwaben): Meine Arbeit am Landestheater Schwaben hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, in die sogenannte Provinz zu fahren und Theater zu spielen. In manchen Gastspielorten (nicht in allen!) müssen wir das „moderne“, politische, auch mal performative Theater viel mehr erklären. Es gibt ein anderes Verständnis davon, was Theater sein soll. Genauso wichtig erachte ich das morgendliche Spielen um neun Uhr vor Schülern, sowohl in Memmingen als auch in den Gastspielorten. Für viele ist es ihre erste Theatererfahrung!
Wir wissen doch alle, dass Theater die Sicht auf die Welt verändert und den Horizont erweitert. Warum sehen sich dann so viele Landestheater abgewertet (da kein Stadt- oder Staatstheater) und mit Geldnot konfrontiert? Wir arbeiten viel, wie Theaterleute überall in der Bundesrepublik, aber die Gagen sind gering, sehr gering. Und man kann es unserer Intendantin nicht einmal vorwerfen. Zur Arbeitsentlastung haben wir sogar eine fünfstündige Mittagspause anstatt der regulären vier Stunden. Das Geld ist einfach nicht da. Ich werde das Gefühl nicht los, dass einerseits Kultur in unserer heutigen Zeit als Luxusgut und nicht als Nährboden verstanden wird und andererseits wir auch im Theater ein Verteilungsproblem haben. Was nutzen der Theaterlandschaft die großen Leuchtturmtheater in jedem Bundesland, wenn unser wertvolles Theatersystem zugrunde geht? Wir müssen uns fragen: Was ist Theater? Oder was soll es sein? Und für wen ist es da?
In Zeiten wie diesen, in denen die Demokratie bedroht ist, liegt die Antwort für mich gerade in den Landestheatern. Weil sie ausschwärmen, um die Menschen zu erreichen und mit ihnen zu kommunizieren.

Patrick Schnicke und Raphael Westermeier (Landestheater Tübingen): Am Landestheater Tübingen zu arbeiten, heißt, pro Saison bis zu 43 Abstecher zu fahren, also anderthalb Monate auf Reisen zu sein. Wir sind Väter, da muss das Familienmanagement sicher getaktet sein. Für Alleinerziehende ist die Situation noch komplizierter: Die Kosten sind hoch, wenn es darum geht, Kinderbetreuung zu ungewöhnlichen Zeiten und in hohem Umfang zu finanzieren, da die Abwesenheit bei einem Abstecher immer deutlich länger ist als bei normalen Abendvorstellungen oder Proben. So entsteht das Gefühl, zwischen Betriebsstruktur, Kräftehaushalt und künstlerischem Anspruch aufgerieben zu werden. In dieser Situation haben wir versucht, nicht in der Kantine zu motzen, sondern als Ensemble den Dialog zu suchen.
Vom LTT können wir diesbezüglich sehr viel Positives berichten: Mit unserer Leitung ist ein offenes, faires und konstruktives Gespräch möglich, wir befinden uns im regelmäßigen Austausch mit dem Personalrat, das Künstlerische Betriebsbüro achtet sorgsam auf Ausgleichstage, und wir als Ensemblevertreter sitzen für die mittelfristige Planung mit in den Dispositzungen. So ist es gelungen, gemeinsam Lösungen zu finden, die strukturelle Erleichterung bringen und trotzdem die Notwendigkeiten des Theaterbetriebs im Blick haben. Nach langen gemeinsamen Verhandlungen wurde zudem im Abendspielplan der probenfreie Samstag eingeführt.
Also alles gut? Nein. Gerade jetzt gelten die wichtigen Forderungen: Mehr Geld! Mehr Personal! Mehr Zeit! Da geht es den Landesbühnen genauso wie den Stadt- und Staatstheatern. Und da die Politik sehr langsam und träge ist, können wir allen Spielerinnen und Spielern nur zurufen: Rückt zusammen, tauscht euch aus, lasst euch nicht entmutigen, kämpft und sucht vor allem den Kontakt mit eurer Leitung. Ihr könnt nur gewinnen! //

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