Theater der Zeit

Laudatio

Expressives Theater mit menschlicher Botschaft

Das Schlosstheater Moers erhält den Martin-Linzer-Theaterpreis 2024. Eine Laudatio

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Konflikt Kunstfreiheit – Politische Antike „Die Orestie“ in Epidauros (09/2024)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Akteure Ulrich Greb Schlosstheater Moers

„Der Diener zweier Herren“, Lustspiel von Carlo Goldoni, Neufassung von Martin Heckmanns. Inszenierung von Ulrich Greb
„Der Diener zweier Herren“, Lustspiel von Carlo Goldoni, Neufassung von Martin Heckmanns. Inszenierung von Ulrich GrebFoto: Jakob Studnar

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Fünf festangestellte Schauspieler:innen hat das kleinste Stadttheater Deutschlands. Und doch gehen vom Schlosstheater Moers eine Menge Impulse aus. In den achtziger Jahren wurde es zweimal zum Berliner Theatertreffen eingeladen, mit den „Bacchantinnen“ von Euripides und Brechts „Leben des Galilei“, beides in der Regie von Gründungsintendant Holk Freytag. In den vergangenen Jahren gab es Kampagnen über Themen wie den gesellschaftlichen Umgang mit Tod, Armut und Demenz, inhaltliche und künstlerische Auseinandersetzungen über eine ganze Spielzeit hinweg. Dabei hat sich das Schlosstheater eng mit lokalen, regionalen und überregionalen Institutionen verzahnt, mit der Moerser Tafel oder dem Paritätischen Wohlfahrtsverband. Und wenn mal NRW-Theatertreffen stattfinden – das geschah zuletzt nur sehr unregelmäßig –, bekam Moers dort sehr oft einen Preis. Weil das kleine Ensemble mit seiner gewaltigen Spielenergie die Herzen eroberte.

Moers ist ein sogenanntes Mittelzentrum und mit etwas über 100.000 Einwohner:innen die größte Stadt des Kreises Wesel am Niederrhein. Das Schloss mit dem Grafschafter Museum und einem sehr schönen Park drumherum ist das Zentrum. Oft haben Städte in dieser Größe ein Bespieltheater oder eine Stadthalle, in der Gastspiele gezeigt werden. Das eigene Ensemble ist ein riesiger Pluspunkt für Moers, ein Anziehungspunkt, ein besonders lebendiges Element der Stadtgesellschaft. Zwar wurde und wird es gelegentlich infrage gestellt, wenn mal wieder die Kassen leer sind. Doch der kleine Betrieb arbeitet extrem wirtschaftlich und sorgt für ein positives Image. Die Nähe zum Publikum ist schon räumlich gegeben. Die Hauptspielstätte im Keller des Schlosses ist ein kleines Kammerspiel, es herrscht traditionell freie Platzwahl. Und das Foyer ist eine gemütliche Kneipe für Begegnungen danach.

Die Bedeutung der kleinen Bühne reicht weit über Moers hinaus. Fast alle Moerser Intendanten haben ihre Bühne als „Labor“ bezeichnet, weil sie kein Abosystem bedienen müssen und große künstlerische Freiheit haben. Im Prinzip hat man in Moers die Vorteile einer städtischen Bühne mit – wenn auch sehr überschaubaren – Gewerken und Strukturen, verbunden mit der Offenheit eines freien Theaters. Immer wieder kommen wunderbare junge Schauspieler:innen, weil sie hier gleich große Rollen spielen können (und müssen), aber auch inhaltlich mitarbeiten, recherchieren, den Spielplan prägen können. Sie sind zwar nach ein paar Jahren meist wieder weg, doch viele erzählen zum Teil noch lange Zeit später, dass sie prägende Jahre in Moers erlebt haben.

Langzeitintendanz

Nach dem Weggang Holk Freytags nach Wuppertal haben Pia Bierey und Rupert J. Seidl viel Herz für schräge Poesie gezeigt, unvergesslich ist der Karl-Valentin-Abend mit Seidl als Wiedergänger des anarchischen bayerischen Komödianten. Johannes Lepper hat von 1999 bis 2003 in Moers vor allem Klassiker in explosives Körpertheater umgesetzt, was in der bei kleinen Spielstätten unvermeidlichen Tuchfühlung zum Ensemble zu rauschhaften Erlebnissen führte. Besonders in Erinnerung ist seine komödiantisch-abgründige Inszenierung von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ in der kleinen Kapelle an der Rheinberger Straße, ein idealer Spielort für die vier Stunden lange Aufführung.

Seit 21 Jahren ist nun Ulrich Greb Intendant am Schlosstheater Moers. Nur Roberto Ciulli im benachbarten Mülheim an der Ruhr ist in diesem Bundesland noch länger im Amt als er. Die Theater in Mülheim und Moers haben weitere Dinge gemeinsam. Das Kernensemble ist über viele Jahre hinweg zusammengeblieben und zu einer unverwechselbaren Einheit gewachsen. An beiden Theatern haben die Beschäftigten ein großes Mitspracherecht. Ciulli war auch Ulrich Grebs Theaterlehrmeister. In Mülheim war Greb nach dem Studium erst Assistent, dann schnell Regiemitarbeiter. „Er hat mein Theaterverständnis vom Kopf in den Bauch verlagert“, hat Greb einmal erzählt und von Proben mit der legendären, früh verstorbenen Schauspielerin Gordana Kosanovic berichtet. „Bei ihr habe ich erlebt, wie eine Schauspielerin auf einer leeren Bühne den Raum verzaubern kann. Das hat mir Horizonte geöffnet.“

Es passiert selten, dass Intendanten so lange an einem Haus bleiben. Das Schlosstheater Moers ist ein Beweis, dass so etwas große Vorteile haben kann. Hier ist nach vielen Gesprächen eine andere Arbeitsorganisation entstanden. Normalerweise wird in Stadttheatern zweimal am Tag geprobt, von 10 bis 14 Uhr und von 18 bis 22 Uhr. Das ist gut für die Regisseure, die zwischendurch die Proben auswerten und neue Ideen entwickeln können. Die Schauspieler:innen allerdings haben oft wenig von der Pause am Nachmittag, Familien und Privatleben leiden unter den Arbeitszeiten. In Moers wird am Stück von 10 bis 16 Uhr geprobt, es gibt außerdem freie Tage, um die außerordentliche Belastung an den Wochenenden auszugleichen. Wenn man auf der Bühne Höchstleistungen sieht und das Ensemble alles gibt, ist das auch möglich, weil Ruhepausen ermöglicht werden. Arbeitnehmerfreundliches Arbeiten befördert die künstlerische Leistung.

Der Kompagniegedanke prägt das Haus. Das äußert sich auch darin, dass Schauspieler:innen eigene Regiearbeiten übernehmen können. Das schränkt die Möglichkeiten, Gäste zu engagieren, etwas ein. Doch immer wieder haben in Moers Regisseur:innen inszeniert, die wie Philipp Preuss und Kay Voges heute zu den Stars der Szene zählen oder wie Susanne Zaun und Barbara Wachendorff ganz eigene Wege im Jugend- und Dokumentartheater gehen. Gerade hat Damian Popp, einer der interessantesten jungen Regisseure, zum zweiten Mal in Moers inszeniert. Seit 2006 gibt es auch das Junge Schlosstheater Moers, in dem Profis und Laien zusammen spielen.

Themensetzungen

21 Jahre an einem Haus – da liegt der Verdacht nahe, es könntensich Gewohnheiten und Routine einschleichen. Und das sind meistens Vorboten der künstlerischen Stagnation. Davon ist beiUlrich Greb in Moers überhaupt nichts zu spüren, im Gegenteil. Gerade weil seine Inszenierungen das Haus prägen, ist es wichtig, dass er keine Marke, keinen festgelegten Stil entwickelt hat. Mal greift er – wie in der packenden Aufführung von Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ – zum Mittel der bösen Groteske. Dann sucht er – wie in Horváths Stück „Zur schönen Aussicht“ – subtil nach den Momenten, in denen Fremdenhass und Faschismus entstehen. Alle Aufführungen sind sehr körperlich geprägt. Im Horváth-Abend entsteht ein Erdbeben ausschließlich durch das Vibrieren, Taumeln und Fallen der Schauspieler:innen.

Werfen wir einen genaueren Blick auf drei Inszenierungen: 2010, „Der Kirschgarten“. Fünf Personen spielen einen Tschechow. Da war das Schlosstheater gerade mal wieder einer kommunalen Kürzungsattacke wegen einer Schuldenkrise entgangen. Den ökonomisch nutzlosen, aber für die ganze Region wertvollen Kirschgarten als Symbol der bedrohten städtischen Kultur zu deuten, lag nahe. Ebenso wie die Gefahr von Zeigefinger und Larmoyanz. Heraus kam ein Abend voller Energie und Spielwut.

Die fünf verkörpern zunächst die Wartenden auf dem verschuldeten Landgut der in Paris lebenden Ranjewskaja. Dann gleiten sie in verschiedene Rollen hinein, was mehrere Deutungen zulässt. Die Einfachste wäre, dass die einsam vor sich hin brütenden Menschen die ganze Geschichte imaginieren. Es gibt viele surreale Momente in dieser Aufführung, Träume, Fantasien, Erinnerungen. Es ist ebenfalls reizvoll, nachzuvollziehen, wie genau die Wechsel passieren, wer wann wen spielt. Denn oft liefert ein einziger Schauspieler These und Antithese zugleich für die Frage, wie mit der Krise umzugehen sei. Doch man kann sich auch problemlos den wechselnden Situationen und Personenkonstellationen hingeben und der Geschichte folgen. Diskurstheater auf hohem ästhetischen Niveau mit direkter emotionaler Wirkung.

Frank Wickermann – einer der über zwei Jahrzehnte prägenden Schauspieler des Ensembles und viel zu früh verstorben – zeigt als Lopachin einen zutiefst zerrissenen Menschen. Er kauft den Kirschgarten, doch im Moment des Triumphs packt ihn das heulende Elend. Lopachin schlägt mit einer Axt auf ein Klavier ein, das wie der Kirschgarten ein Symbol für Kultur und Tradition ist. Die Tasten zersplittern, das Holz fliegt durch die Luft, immer wieder drischt Lopachin auf das Instrument, bis zur Erschöpfung.

2012, „Elefant im Raum“. Die Aufführung ist Teil der Kampagne „Über/Gehen“, einer Auseinandersetzung mit der Ausgrenzung von Tod und Sterben in unserer Gesellschaft. Zwei Schauspieler:innen (Katja Stockhausen und Matthias Heße) spielen mit zwei Laien, Expert:innen für die Todesnähe, die sie selbst erlebt haben. Andere werden per Video zugespielt. Die 20-jährige Lisa Graef steht direkt vor dem Publikum: „Meine Schleimhäute waren ganz kaputt.“ Lisa Graef erzählt ihre Geschichte nüchtern. Ich konnte nicht mehr richtig reden. Meine Spucke war ganz fies dick. Ich hatte nur noch Matsch im Mund.“ Barbara Wachendorff, die in Moers auch einen grandiosen Abend mit Demenzkranken inszeniert hat, zeigt kein Depri-Dokutheater. Sondern eine witzige Aufführung, die vom Überleben handelt.

In Moers ist durch viele ähnliche Projekte eine Kompetenz gewachsen beim Umgang mit Menschen und ihren Grenzerfahrungen. Theater als offene, ehrliche Recherche, humorvoll und provokant, feinfühlig und bildermächtig. Die jungen Leute wollen nicht auf ihre Krankheit reduziert werden. Das ist die wichtigste Aussage des Abends. Sie hassen es, wenn alle gleich einen Mitleidsblick bekommen und nur noch Rücksicht auf sie nehmen. Gleichzeitig erleben sie, dass sie ihre Krankheit nicht immer erwähnen sollten. Eine junge Frau hat sich als Krankenschwester beworben und immer in die Bewerbung geschrieben, dass sie selbst an Krebs erkrankt war. Sie hat keine Antwort bekommen. Als sie ihre Krankheit verschwieg, änderte sich das.

2020, „Parade 24/7“. Sechs Schauspieler stehen mit dem Rücken zum Publikum. Sie tragen graue Anzüge. Einzelne Körperteile zucken rhythmisch, erst die Schultern, dann die Beine. Mit dem Rausch des Rave hat das nichts zu tun. Aber die Choreografie nimmt das Gefühl auf, Teil einer Masse zu sein, die sich bewegt. Nur dass es diesmal eine Art Requiem ist, eine Trauerzeremonie für die 21 Toten und weit über 500 Schwerverletzten bei der Loveparade 2010 in Duisburg. Zehn Jahre nach der Katastrophe wendet sich das Schlosstheater gegen das Vergessen.

Choreograf Constantin Hochkeppel hatte damals gerade den Studiengang Physical Theatre an der Folkwang Universität der Künste in Essen absolviert. Zu den zuckenden Körpern in den grauen Anzügen hat Ulrich Greb eine Klangcollage entwickelt, die ausschließlich aus Originaldokumenten vom 24. Juli 2010 besteht. Man hört die Stimmen von Radiomoderator:innen und Sicherheitskräften. Immer wieder werden sie von Störgeräuschen unterbrochen, sogar die Funklöcher sind in der Collage genau nachvollzogen.

Es folgen Berichte von Augenzeugen. Das Ensemble spricht sie im Plusquamperfekt, um Distanz zu den Texten zu schaffen. Paradoxerweise kommen sie einem gerade deshalb sehr nah. Der dritte Teil der Aufführung beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Katastrophe. Weiterhin gibt es ausschließlich Originaltexte, mit einer Quellenangabe am Ende. Das Ensemble rottet sich zusammen, bildet eine graue Wand der Anzugträger. Schließlich holen die sechs Menschen auf der Bühne Einstecktücher aus den Jacken und lassen sie verschwinden. Es sind durchschaubare Taschenspielertricks, doch sie funktionieren. So ist auch in Duisburg jede individuelle Schuld irgendwie verschwunden.

Im nächsten Sommer wird es in Moers einen Wechsel geben. Jakob Arnold und Daniel Kunze übernehmen als Intendantenduo. Eine noch größere Veränderung steht dem Theater selbst bevor. Auf dem Kastellplatz vor dem Schloss soll ein neues, klimaneutrales Theater gebaut werden, ein Ort für die Kunst und auch für die Forschung. Das Land NRW und der Bund tragen 80 Prozent der Baukosten. Es ist ein Ergebnis jahrelanger politischer und künstlerischer Entwicklungsarbeit und ein Bekenntnis, dass aus Moers das Schlosstheater nicht mehr wegzudenken ist.


Die Preisverleihung findet am 14. September im Schlosstheater Moers statt.

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