Die 1960er und 1970er Jahre
Das Arme Theater: Jerzy Grotowski
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Die aktionistischen Performances oder Happenings, mit denen, kritisch gemeint, Kunst wieder in die Gesellschaft zurückkehren sollte, deuteten an, dass die enorme neo-avantgardistische Grenzerweiterung künstlerischer Gestaltungs- und Kommunikationsweisen dem Bedürfnis entsprang, zumindest mit ihm eng zusammenhing, in der Kunst wieder intensiver auf (bedrängende) Prozesse der gegenwärtigen historischen Situation antworten zu müssen. So beruhte wohl die außerordentliche internationale Wirkung von Jerzy Grotowskis „armem Theater“ während der 1960er und 1970er Jahre vor allem auf der Radikalität, mit der er die Suche (den Weg) des (gegenwärtigen) Menschen zu sich selber als unmittelbar körperliche individuelle Tätigkeit demonstrierte. Im Gegensatz zur Kunst in der Brecht-Linie musste sich für ihn das Individuum, strukturell gesehen der Körper, in einem mythisch gedeuteten, ritualistisch geformten ständigen (metaphysisch ewigen?) Konflikt mit der Umwelt buchstäblich physisch-existentiell behaupten. „Artaud lieferte uns“, so Grotowski 1965, „durch sein Martyrium einen leuchtenden Beweis vom Theater als Therapie“.49 Der Entschluss zur Armut, zu einem „von allem Unwesentlichen befreiten Theater“ habe sein Skelett und seine Reichtümer erkennen lassen. „Warum beschäftigen wir uns mit Kunst? Um unsere Grenzen zu überschreiten, um über uns selbst hinauszuwachsen, um unsere innere Leere auszufüllen – um uns selbst zu verwirklichen. In diesem Kampf um die eigene Wahrheit, in dieser Bemühung, sich die...