Bücher
Auch du, Arbeiterin!
Sergej M. Tret’jakov: Ich will ein Kind! Band I: Zwei Stückfassungen und ein Film-Libretto. Band II: Aufführungen und Analysen. Band I: 296 S., 24,90 EUR, Band II: 359 S., 29,80 EUR.
von Erik Zielke
Erschienen in: Theater der Zeit: Test the East – 30 Jahre Mauerfall (11/2019)
Assoziationen: Buchrezensionen
Wer war Sergej Tretjakow? „Brechts sowjetischer Lehrmeister“, 1892 im heutigen Lettland geboren, schloss sich jung den russischen Sozialrevolutionären an. Kunst und Revolution waren seine Lebensthemen, sie waren eins für ihn. Als umtriebiger Publizist und herausragende Figur des Futurismus russischer Prägung wurde er Zeuge der Oktoberrevolution und Bolschewik. Als Theoretiker – seine Arbeit galt vor allem den Möglichkeiten einer neuen, revolutionären Kunst – und als Schriftsteller – sein Werk umfasst Dramen, Prosa, Lyrik und Reportagen – wurde er bedeutender Teil des sowjetischen Kulturlebens der zwanziger und dreißiger Jahre. Hier wirkte er als gleichberechtigter Partner und Wegbegleiter von Majakowski, Eisenstein und Meyerhold. Seine internationalen Arbeitsbeziehungen reichten bis zur deutschen Avantgarde: John Heartfield, Hanns Eisler und Bertolt Brecht, dessen „Maßnahme“ Tretjakow, wie erst kürzlich bekannt wurde, ins Russische übertragen hat, waren mit ihm im künstlerischen Austausch. Als Tretjakow 1937 von einem Stalin’schen Erschießungskommando hingerichtet wurde, hatte die politische Führung bereits dem künstlerischen Experiment den Kampf angesagt. Technokratie, Reglementierungswahn und Fantasielosigkeit waren tief vorgedrungen in den Kulturbetrieb.
Ist Tretjakows Biografie auch von unglaublicher Produktivität gezeichnet, ist der Blick auf sein Nachleben ernüchternd: Schwer hatten es seine Schriften in der DDR, wenn sie auch ihren Weg zum Publikum fanden; in der BRD hieß der Zensor Desinteresse. Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer sieht es kaum besser aus; Tretjakow ist ein Phantom, kein vielgelesener Autor.
Mit einer zweibändigen Ausgabe „Ich will ein Kind!“, die erstmals gebündelt in deutscher Übertragung die zwei Stückfassungen des gleichnamigen Dramas und das Filmlibretto aus den zwanziger Jahren sowie umfassende historische und aktuelle Sekundärliteratur bereitstellt, wird von den Herausgebern Tatjana Hofmann und Eduard Jan Ditschek gegen das Desinteresse angearbeitet. Schwer zu überschauen ist die Fülle an Material. Ein fokussierter Blick und Konzentration, was die Dokumentation der verschiedenen Inszenierungen angeht, hätten der Publikation sicher gutgetan. In einer Zeit, die von Genderdiskursen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weiblicher Selbstbestimmung und Geburtenkontrolle insbesondere, von Diskussionen über Wohnungsknappheit und über sexuelle Gewalt geprägt ist, sollte der Stoff allerdings mehr als willkommen sein.
Tretjakows Stück, den „neuen Menschen“ im Blick, dreht sich um Milda, eine Proletarierin, die mit der Geburt eines Kindes ihren Dienst für den Sozialismus leisten will. Dafür benötigt sie einen Mann – auf seinen Körper und seine Reproduktionseigenschaften reduziert. An einer Lebensgemeinschaft hat sie kein Interesse. Das Kind gibt sie in eine staatliche Einrichtung, wo es im Sinne der kommenden Gesellschaft herangezogen werden soll. Dem Vater entsagt sie das Sorgerecht, wie sie auch für sich selbst einen anderen, einen sinnvolleren Platz in der Welt sieht denn als Mutter.
Tretjakow wollte die Revolutionierung nicht nur von Kunst und Gesellschaft, sondern des Lebens selbst. Die Überlegungen der 68er westlicher Spielart, das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie aufzugeben, wirken reichlich halbherzig, wenn man liest, von welchen Gedanken fortschrittliche Kräfte vierzig Jahre zuvor in Russland getrieben waren – und wie sich derartige Überlegungen in Kunst übersetzen ließen. Tretjakow bemerkte selbst kühl: „Das Stück Ich will ein Kind! legt die Liebe auf den Operationstisch und untersucht sie auf ihre sozial bedeutsamen Auswirkungen.“ Mutige Dramaturgen müssten nur zugreifen, das Material liegt vor. //