Auftritt
Magdeburg: Die Theorie frisst ihre Kinder
Theater Magdeburg: „Hello. It’s me Democracy“ (UA) von Jan Koslowski. Regie Jan Koslowski, Bühne Maximilian Siebenhaar, Kostüme Svenja Gassen
von Paula Perschke
Erschienen in: Theater der Zeit: Die rote Revolution – Russland zwischen 1917 und der Gegenwart (11/2017)
Assoziationen: Theater Magdeburg
Die Geschwister Ines und Mayo haben ein richtig gutes Leben: Sie müssen nicht arbeiten, weil ihre Eltern ihnen Geld zustecken. Deshalb können sie den ganzen Tag in einem Café, dem Palace de la République, rumsitzen und philosophische Phrasendrescherei betreiben. Sie haben zu allem eine Meinung, sprechen über Politik genauso interessiert wie über vorzüglichen Kaffee und stehen auf den Hipster-Bohemian-Look, bei dem einfach gar nichts zusammenpasst (Kostüme Svenja Gassen) und bei dem Mann sich auch gern mal einen Karl-Marx-Bart frisiert – um auszudrücken, dass er alles gelesen und total verstanden hat. Sie reden sich blitzschnell in Rage und versöhnen sich wieder. Diese Streitmomente sind die Highlights ihres trostlosen Lebens, welches sich zwischen dem Bistro an der Ecke und der gemeinsamen Wohnung ohne Schlafzimmer und ohne Türen abspielt (Bühne Maximilian Siebenhaar).
In stetiger Sehnsucht nach aufregenden Abenteuern lernen sie Thomas kennen und laden ihn prompt ein, in die geschwisterliche Wohnung einzuziehen. Zusammen fühlen sie sich wie Jules, Jim und Catherine und lassen auch sonst keine Gelegenheit aus, ihre überromantisierte Affinität zu allem, was französisch ist, kundzutun. Die von Regisseur und Autor Jan Koslowski stark überzeichneten Figuren wirken ohnehin, als wären sie direkt aus einem Cinéma-du-look-Film entsprungen. Ihre überdramatischen Gesten verhalten sich ironisch zum Text, der eine Phrase nach der anderen bereithält. Sie kennen alle philosophischen Theorien, sind auch ständig angehalten, diese runterzurattern, würden sich aber ansonsten niemals die Hände schmutzig machen.
Die Ménage-à-trois, die nun also aus Ines (Pia-Micaela Barucki), Mayo (Amadeus Köhli) und Thomas (Ralph Opferkuch) besteht, ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Sie können nicht mit Geld umgehen und haben keine Ahnung, wie man Essen zubereitet. „Es gibt Dinge, die kann man nur zu dritt machen. Abstimmen zum Beispiel.“ Als die elterlichen Zuwendungen nachlassen, überstimmen die Geschwister Thomas und schicken ihn los, um vom letzten Rest des Geldes etwas Essbares zu besorgen. Er bringt Kartoffeln mit – ein Streit ist dennoch vorprogrammiert: In der Küche ohne Esstisch debattiert das Trio über die Sinnhaftigkeit der Kartoffeln und die permanente Uneinigkeit in jeder ihrer Diskussionen. Die Wohnung, neben Café, Lacoste-Laden und einer nicht weiter bespielten École (Schule) der einzige private Raum auf der Bühne, in den die Zuschauer teils per Videoprojektion im Retro-Style Einblick haben, wird zum Austragungsort überflüssiger Konflikte.
Koslowski führt pseudointellektuelle Figuren vor, wodurch die Frage aufkommt, woher die kollektive Politikverdrossenheit eigentlich kommt. Sie sind jung, klug und könnten ihre freie Zeit nutzen, um politisches Engagement zu betreiben, welches nicht nur darin besteht, fair gehandelte Lebensmittel einzukaufen. Die Figuren drehen sich ausschließlich um sich selbst und ihre banalen Konflikte. Distanziertheit, allgegenwärtige Nostalgie und unaufhörliches Blablabla lassen das Trio jegliches Gefühl für reale gesellschaftspolitische Probleme verdrängen. Wer nur redet, hat keine Zeit zum Handeln. Als es Ines und Mayo mit Thomas schließlich doch zu öde wird, setzen sie ihn vor die Tür: „Ich liebe dein Gesicht nicht mehr und deine Augen und deinen Mund auch nicht. Ich verabscheue die Farbe deiner Pullover, und außerdem langweilst du mich.“
Im Finale versucht Koslowski noch einmal alles, um das Private ins Politische zu katapultieren. Anlässlich eines leeren Puddingtopfes werden Wahlen durchgeführt, um endlich eine Lösung für die nicht funktionierende Lebensmittelversorgung zu finden. Es werden Antrittsreden geübt und Wahlzettel in den Kochtopf geworden. Einigen können sie sich natürlich nicht. Irgendwann wird es Thomas, der zwischenzeitlich zurückgekehrt ist, dann doch zu viel. Er verwandelt sich in einen Werwolf und zerfleischt seine Kommune. Aus der Nouvelle-Vague-Romantik ist ein Splatter geworden.
In „Hello. It’s me Democracy“ taucht das Thema Demokratie lediglich als ein ins Private verkleinerter WG-Diskurs auf – gelungen ist der Abend trotzdem. Vor allem, wenn man als Zuschauer das eigene Gerede in den Bühnenfiguren wiedererkennt. Didier Eribon löste mit seiner „Rückkehr nach Reims“ einen ähnlich ernüchternden Schockeffekt aus: Wir kennen alle Theorien, aber der Realität der Demokratie samt ihrer Bedrohung durch antidemokratische Kräfte sind wir (bislang) nicht gewachsen. Den Soundtrack zu dieser Erkenntnis bilden lang nicht mehr gehörte Achtziger-Jahre-Schnulzensongs wie das populäre „Nightshift“ von den Commodores. „It’s gonna be a long night“ – denn jetzt geht die Diskussion erst richtig los. //