Argumentativ-reflexives Denken, vor-geschriebenes Theater
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Eine entscheidende Rolle für die theatrale Behandlung dieser Grundproblematik spielten die vor-geschriebenen, gleichsam philosophisch argumentativen Dramen-Texte. Das Vordringen der Schriftlichkeit und die Herausbildung eines neuen Denktypus, der philosophisch-rational argumentativen Reflexion, hatte in Verbindung mit den politischen Bewegungen in Richtung einer demokratischen Polis die Grundlage für das Entstehen des einzigartigen alten Theater Athens geschaffen.
Bis ins späte 5. Jahrhundert v. Chr. kommunizierte man in Athen hauptsächlich mündlich. Nur ein kleiner Teil der freien Bürger (Männer) konnte lesen und schreiben. Schriftliche Kommunikation bestimmte weder die alltägliche Lebensführung noch politische Entscheidungen. Man schrieb, nach Eric Havelock, noch bis in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts im Wesentlichen rhythmisiert-poetisch, „narrativ“ in der Kommunikationsform des Mythischen. Das entsprach der Art, wie man in der reinen Oralität das „Eingraben“ des Gesprochenen (Gewussten) ins Gedächtnis gewährleistete. So waren auch die ersten schriftlichen Äußerungen dessen, was man gegenüber dem mythischen Denken als zumindest partiell neuartige philosophisch-abstrahierende Reflexion bezeichnen könnte, poetischen Erzählungen recht ähnlich. Aristophanes’ Komödien legen nahe, dass man bis 405 v. Chr. in tradierter Mündlichkeit, dem Face-to-Face-Unterricht lernte.145
Es waren aber die mit dem phonetischen Alphabet geschriebenen Gesetze des 6. und frühen 5. Jahrhunderts, mit denen sich die demokratische Polis herausbildete. Als eine wesentliche...