Dritter Teil. Das (lange) 19. Jahrhundert. IV.
Kolonialismus und imperiale Modernisierung
Die subversive Kraft des importierten Theaters: Indien
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Assoziationen: Asien
Der Ansatz der antikolonialen Dramatik Südafrikas verweist auf die vertrackte Doppelgesichtigkeit imperialer Kulturexporte. Sie haben (hatten) auch das Potenzial, eine produktive soziokulturelle Modernisierung mit zu befördern. So lehnten sich Theatermacher in Asien an westliche Modelle für ihre eigene anti-kolonial gerichtete Kunst an, wie die indonesische Gruppe Komedie Stamboel, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts auf der Hauptinsel Java aktiv war, und wie ihr nachfolgende Aktivisten, die sich Darstellungsweisen des Melodramas in Europa, nicht nur der der holländischen Besatzer für ihre anti-kolonialen Produktionen bedienten. In den 1920er und 1930er Jahren inspirierte dann Europas gesellschaftlich engagiertes Theater Versuche eines modernen nationalen Theaters. Wahrscheinlich auch mit Blick auf Ibsens GESPENSTER behandelte 1930 ein Stück das für die indonesische Gesellschaft drängend gewordene Syphilis-Problem.196 Und so spielte das literaturbasierte Bildbühnen- oder Guckkastentheater auch für die traditionell vielfältige Theaterlandschaft des indischen Subkontinents eine komplexe, widersprüchliche Rolle.
Während ihrer Kolonialherrschaft ließen die Briten die ländlichen Traditionen relativ unberührt. Da sie ihre Politik auf die Zusammenarbeit mit den Feudalherren stützten, lag es nicht in ihrem Interesse, bestehende soziale Strukturen zu ändern. Die Großstädte dagegen bauten sie aus und gestalteten sie nach britischem Vorbild und nach ihren imperialen Bedürfnissen. Das bengalische Kolkota, früher Kalkutta, war das erste große geschäftliche und kulturelle Zentrum, entstanden aus der 1690 von der Britisch-Ostindischen Kompanie errichteten Handelsniederlassung in Ostindien und verstreuten Dörfern längs des Ganges. 1773 wurde es zur Hauptstadt Britisch-Indiens. In Handelszentren, so auch in Mumbai (früher Bombay) hatte sich schon früh eine an britischen soziokulturellen Mustern orientierte indische städtische Mittelschicht herausgebildet, die, unterstützt durch das von den Briten importierte Bildungssystem, danach strebte, wie die Briten „auszusehen“.197 Das erstreckte sich auch mit der Übernahme der europäischen Darstellungsstruktur auf ihre theaterkünstlerischen Aktivitäten. Die Aufführungen, an denen Gruppen der indischen Mittelschicht beteiligt waren und die dann im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht wurden, zeigten, dass es nicht um unterwürfiges Kopieren ging. In der Beherrschung westlicher kultureller Tätigkeiten äußerte sich kulturelle Produktivität, so auch der Anspruch auf soziokulturelle Gleichrangigkeit mit den Europäern. Das zeigte sich frühzeitig im Anknüpfen an Elemente des traditionellen Theaters Bengalens, dann im Rückgriff auf das große klassische indische Sanskrit-Theater des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung,198 schließlich mit kolonialkritischen Inszenierungen im Verlaufe des 19., später des 20. Jahrhunderts.
In Kalkutta gastierten englische Theatergruppen schon relativ früh, und die dort ansässigen Briten gründeten ihre eigenen privaten Laientheatergruppen. Das Theater war der „Paradeplatz gehobener kolonialherrschaftlicher Bildungspflege“.199 Stadtplänen nach gab es seit 1753 ein Gebäude, The Playhouse, für theaterrelevante Unterhaltungen (Bälle, Musikdarbietungen) und Zeremonien, zunächst ausschließlich für Europäer. 1776 baute man das New Playhouse, unterstützt auch durch den Schauspieler David Garrick von England aus. Im Brief einer Besucherin von 1781 hieß es, das Theater sei „very neatly fitted up and the scenery and decoration quite equal to what could be expected here“.200 In Calcutta Theatre umbenannt, spielten Amateure Stücke der zeitgenössischen englischen Dramatik (Congreve, Sheridan) und bald auch Shakespeare (HAMLET, RICHARD III.) 1789 führte man mit einer englischen Übersetzung von Kalidasas SAKUNTALA wohl erstmalig ein Drama aus der großen indischen Sanskrit-Theaterperiode im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung auf. Im gleichen Jahr bereicherte die Eröffnung des Little Theatre in einem Privathaus das Theaterleben der Europäer in Kalkutta, und 1795 zeigte der Russe Lebedew in einem anderen, neu eingerichteten Theater eine in Bengali übersetzte französische Komödie mit indischen Darstellern vor einem „gemischten“ Publikum (Indern und Europäern).201
1831 fand die erste Aufführung eines von Bengalen auf Englisch geschriebenen Stückes in einem Privathaus vor Engländern und Bengalen statt. Nach dem Vorbild der britischen Laiengruppen spielte man den fünften Akt aus Shakespeares JULIUS CAESAR und den ersten Akt eines alten Sanskritdramas auf einer Guckkastenbühne, wie sie die Engländer als Theater-Modell importiert hatten, und in der Art und Weise, wie man es von englischen Schauspielern gesehen hatte. Aus der bengalischen Familie, die den Abend veranstaltete, stammt der spätere Nobelpreisträger Rabindranath Tagore. In der Folgezeit gab es in Privathäusern Kalkuttas immer wieder Aufführungen indischer Laiengruppen auf nach britischem Vorbild gebauten Bühnen. Der Beginn dieser Verzahnung europäischer und indischer Elemente galt vielfach und gilt noch heute als Wiedergeburt des indischen Theaters. „Theatre came to Bengal from England about two hundred years ago via the early English traders and colonial rulers“, so der indische Historiker Kironmoy Raha. Zwei Faktoren seien wesentlich gewesen: Die Existenz einer indigenen traditionellen Form theatraler Unterhaltung und die Entstehung einer einheimischen Mittelklasse. „As a result, the idea of having a play performed in a particular place and on a raised platform enclosed in three sides took early root in Bengal.“202 1857 wurde das erste Stück in bengalischer Sprache aufgeführt, dem bald weitere folgten. Spannend ist, dass im gleichen Jahr eine kleine Gruppe der neuen gebildeten Elite einen Aufstand gegen die britische Herrschaft machte und dass einer der Aufständischen, Nanasaheb Peshwa, als Erster Shakespeare in die Sprache Marathi übersetzte. Der Grund für die Annahme Shakespeares durch die Marathi sprechende Intelligenz lag darin, dass man zutiefst glaubte, das Geheimnis der Macht der britischen Eindringlinge läge in ihrer Sprache und in dem Wissensfundus, den diese Sprache repräsentierte. Lehranstalten wie die University of Bombay, die 1857 gegründet wurde, spielten in der „Verbreitung des Shakespeare-Kults“ (spreading the cult of Shakespeare) eine wichtige Rolle.203
1872 gründeten Aktivisten, die als Laienschauspieler begonnen hatten, in Kalkutta die erste professionelle bengalische Theatergruppe unter dem Namen National Theatre. Im Zusammenhang mit antikolonialen Unruhen ging das nach dem westlichen Muster gemachte Theater kritisch auf das Verhalten der Briten in Indien ein. Die erste Inszenierung von Dinabandhu Mitras Stück NEEL-DARPAN (ins Englische übersetzt von Indigo Mirror) thematisierte die Ausbeutung der armen bengalischen Bauern durch die Kolonialmacht. In einer Szene vergewaltigte ein weißer Pflanzer eine indische Bäuerin.204 Die Gastaufführung in der nordindischen Stadt Lucknow 1875 wurde von auf die Bühne stürmenden wütenden Europäern abgebrochen. Das machte die Briten aufmerksam. Die Polizei beendete die Aufführung eines weiteren Stückes, als darin ein Inder verspottet wurde, der sich bei den Kolonialherren anbiederte.205 Daraufhin handelte eine nächste Inszenierung satirisch von der Polizei, was 1876 den Erlass des DRAMATIC PERFORMANCES CONTROL BILL zur Folge hatte. Jede weitere öffentliche Aufführung benötigte jetzt eine polizeiliche Vorabgenehmigung. Dieses Gesetz – ein Kontrollinstrument der Briten gegenüber den Indern – besteht bis heute sowohl in Pakistan als auch in Indien.206
Vergleichbare Theatergruppen, die zunächst auf Englisch und dann vor allem in den einheimischen Sprachen spielten, entstanden etwas später auch in anderen Städten des Subkontinents. Auch hier folgte auf die Anfänge mit Laiengruppen die Gründung von Ensembles hauptberuflicher Schauspieler. Mit der Professionalisierung ging ein kommerzielles Interesse einher – besonders, da sich unterhaltsames Theater bald als einträgliches Geschäft herausstellte. Die einflussreichen Truppen dieses kommerziellen Unterhaltungstheaters trugen meist englische Namen wie Victoria Theatre oder Alfred Theatre, und sie wurden wie im britischen Theater von actor-managers geleitet, die zum großen Teil aus der Gruppe der Parsen kamen, den Nachkommen persischer Einwanderer, die überwiegend im Handel, in der Wissenschaft oder der Kunst tätig waren und als liberal und weltoffen galten. Entstanden zunächst in Mumbai (Bombay), tourten Parsi-Truppen bald durch die ganze Kolonie.
Das neue städtische Unterhaltungstheater erinnerte an die alten Volkstheaterformen – seine Aufführungen dauerten oft die ganze Nacht hindurch, schwelgten in Schlachten, Blut und Donner und erzählten von hart errungenen Heiraten – ähnelte zugleich aber sehr stark den viktorianischen Mustern der in Indien Gastspiele absolvierenden britischen Truppen. Der actor-manager der wichtigsten Parsi-Gruppe, des Victoria Theatre, war selbst in London gewesen und hatte sich dort Theatertechniken angeeignet. Inszenierungen des Parsi-Theaters zeigten Brände, schwebende Nymphen, böse Geister, die aus der flammenden Hölle auftauchten, sprudelnde Quellen, Dschungel, Flüsse, Gott Krischna, der auf vier Hauben des Schlangenkönigs Kaliga tanzte und Hunderte anderer phantastischer Szenen. Die jeweiligen technischen Verfahren hüteten die Truppen als strenge Geheimnisse.207 Wie im melodramatischen viktorianischen Theater waren dem Parsi-Theater Sensationen wichtiger als die Handlung und die Figuren einlinig gezeichnet. Es gab einerseits die Heldinnen und Helden und andererseits finstere Schurken, die, gleichsam das vorprogrammierte happy ending, am Ende bestraft wurden. Die Stückthemen stammten aus verschiedenen Quellen, aus alten persischen Königsepen, arabischen Märchen, der Hindu-mythologie und indischen Volkslegenden. Um dem breiten Publikum der Städte gerecht zu werden, das sich aus Angehörigen verschiedener Religionen zusammensetzte, war den Stoffen der mythologische Gehalt weitgehend entzogen. Themen aus der indischen Gegenwart behandelte man in sentimentalen Geschichten und mit stereotypischer, einliniger Figurenzeichnung, unkritisch, ja affirmativ gängige Klischees und herrschende Moralvorstellungen bedienend.
Bildzeugnissen nach wurde Shakespeare bis in die 1950er Jahre im illusionistischen Guckkastenstil inszeniert, nach britischem Vorbild häufig sehr frei bearbeitet, manchmal auch von Leuten, die das englische Original nicht lesen konnten und die Fabel nur aus Erzählungen oder anderen Aufführungen kannten. Die Adaptionen wurden dem Muster des Parsi-Theaters angepasst. Eine KING LEAR-Inszenierung musste immer glücklich enden, eine Praxis, die auch im britischen Theater des 19. Jahrhunderts nicht unüblich gewesen war.208 Die Komödien handelten in der persönlich-familiären Lebenswelt; es ging vor allem um Heiratsprobleme.209 Gesprochen wurde in gereimten Versen und in Prosadialogen. Lieder mussten in jeder Produktion eingebaut sein. Bereits zur Eröffnung einer Aufführung sang die gesamte Schauspielergruppe an der Rampe ein Lied, in dem die Thematik des Stücks anklang. Pathos, rhetorische Ornamente und sehr lautes Sprechen bestimmten die Darstellungen. Ein Grund für Letzteres waren die Aufführungsbedingungen: Man spielte in großen, akustisch schlechten Häusern, und die Zuschauer, die sich in jeder Hinsicht unterhalten wollten, verhielten sich entsprechend geräuschvoll. Das Publikum, das weitgehend nach den Geschlechtern getrennt saß, stammte vor allem aus der städtischen Mittelschicht. Auch vornehme Musliminnen nahmen teil; sie waren dabei hinter einem Gazevorhang vor den Blicken fremder Männer verborgen. Auf der Bühne waren wie bei den traditionellen Volkstheaterformen in den Anfangsjahren nur Männer zu sehen. Um den Unterhaltungswert zu steigern, bemühten sich die Manager jedoch bald um Schauspielerinnen, die nicht leicht zu finden waren. Schauspieler standen in den Städten sozial auf der unteren Rangstufe. Sie stammten überwiegend aus der Unterschicht. Eine Frau, die als Schauspielerin arbeitete, wurde als eine Prostituierte betrachtet.
Bombay war ein Schmelztiegel der Völker und Sprachen. Viele Parsi-Theatergruppen wechselten nach Anfängen in Bengali, Marathi, Gujarati und Englisch bald zum Urdu und später auch Hindi über, um ein größeres Publikum anzusprechen. Urdu ist eine Mischsprache, die sich nach dem Eindringen der Muslime in Indien aus Elementen nordindischer Sprachen, des Sanskrit, des Persischen, des Arabischen und des Türkischen, entwickelte. Es wird vor allem von städtischen Muslimen gesprochen, ist aber auch darüber hinaus durch die jahrhundertelange muslimische Herrschaft in Nordindien verbreitet. Im britischen Kolonialreich war Urdu neben dem Englischen zweite Amtssprache.
Obwohl heute nicht mehr existent, prägt Parsi-Theater immer noch durch die aus ihm stammenden Formen des kommerziellen Theaters die Rezeptionshaltung des Publikums. Vor allem aber haben sich seine Konventionen im indischen Film fortgesetzt. Nach dem Aufkommen des Kinos sahen viele actor-manager der Theater im Film das Geschäft der Zukunft. Anfangs filmte man Theateraufführungen einfach ab, entdeckte dann die ungleich größeren Möglichkeiten des neuen Mediums zur genauen Gestaltung der spektakulären Effekte, von denen das Parsi-Theater gelebt hatte.
196Evan Darwin Winet: INDONESIAN POSTCOLONIAL THEATRE. SPECIAL GENEALOGIES AND ABSENT FACES, Basingstoke 2010, S. 49f.
197Diese Orte, so Girish Karnad, „had developed an Indian middle class that in all outward respects aspired to ‘look’ like its British counterpart. The social values of this class are shaped by the English education it had received and by the need to work with the British in trade and administration.“ Zit. in: Eva Maria Fischer: THEATER IN PAKISTAN. POLITISCHE UND INTERKULTURELLE PROZESSE IN DER AUSEINANDERSETZUNG UM KULTURELLE IDENTITÄT, Frankfurt/M. 1997, S. 45.
198Siehe zu „hybrid combinations“ Sudipor Chatterjee: THE COLONIAL STAGED. THEATRE IN COLONIAL CALCUTTA, London/New York/Calcutta 2007, S. 36 – 42.
199Gerhard Stilz: „Das englische Drama Indiens: Ein Überblick“, in: ders. (Hg.): DRAMA IM COMMONWEALTH, Tübingen 1981, S. 107.
200Zit. in: Nicola Savarese: EURASIAN THEATRE. DRAMA AND PERFORMANCE BETWEEN EAST AND WEST FROM CLASSICAL ANTIQUITY TO THE PRESENT, Holstebro/Malta/Wroclaw 2010, S. 230.
201Ebd., S. 232, 240f.
202Zit. in: ebd., S. 251.
203Dnyaneshwar Nadkarni: „Shakespeare in Maharashtra“, in: A TRIBUTE TO SHAKESPEARE 1989, o. O. 1989, S. 16.
204Es ist das erste politische Stück, das die Kolonialmacht frontal attackierte, ein Angriff, so Bharucha, auf die ökonomische Ausbeutung und indirekt auf „the political tyranny and disregard of human rights“ der Kolonialmacht. Die Vergewaltigungsszene ist in der englischen Fassung abgedruckt in Rustom Bharucha: REHEARSALS OF REVOLUTION. THE POLITICAL THEATRE IN BENGAL, Honolulu 1983, S. 18.
205Farley P. Richmond/Darius L. Swann/Philip B. Zarilli (Hg.): INDIAN THEATRE. TRADITIONS OF PERFORMANCE, Honolulu 1990, S. 389. Hier werden die Inszenierungen THE MIRROR OF THE INDIGO PLANTERS bzw. THE BLUE MIRROR (NILDARPAN) beschrieben.
206Fischer: THEATER IN PAKISTAN, S. 46. Richmond datiert in INDIAN THEATRE. TRADITIONS OF PERFORMANCE „the enactment of the Dramatic Performances Act“ auf 1879.
207Balwant Gargi: THEATER UND TANZ IN INDIEN, Berlin 1960, S. 88.
208Siehe Sunita Paul (Hg.): A TRIBUTE TO SHAKESPEARE 1989, New Delhi 1989.
209Der pakistanische Theatermacher Zia Mohyeddin beschrieb die Komödien des Parsi-Theaters so: „Comedy was built out twofold men marrying, or wanting to marry, young wives; or miserly fathers having heart-attacks over the vagaries of their young offspring.“ Zit. in: Fischer: THEATER IN PAKISTAN, S. 48.