Bühnenbild
Vom Sinn und Wesen des Bühnenbildes
von Willi Schmidt
Erschienen in: Theater der Zeit: Zeittheater oder Theater der Zeit? (07/1946)
Assoziationen: Kostüm und Bühne
Auf dem Theater ist alles Bewegung. Veränderlicher ist keine Kunstform als der Zusammenklang von Geste, Mimik und gesprochenem Wort; bewegter, beweglicher, wandelbarer von Augenblick zu Augenblick ist kein Medium der Kunst als der Schauspieler. Der Mensch auf der Bühne gehört noch immer – wie seit Anbeginn der abendländischen Kultur – zu den geheimnisvollen und faszinierenden Erscheinungen unseres entgötterten Daseins; ihm, der von Dichters Gnaden aufgerufen wird, unser Schicksal in Spiel zu verwandeln, den geistigen und dreidimensionalen Raum zu schaffen; darin er agieren und sein Wesen erfüllen kann, ist die Aufgabe der szenischen Gestaltung. Deshalb ist jedes Bühnenbild verfehlt und wertlos, das die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt statt auf den Schauspieler, das ihn starr und schematisch einrahmt, statt seiner unwiederholbaren Gebärde die glücklichste Folie zu geben, das ihn mit üppigem Beiwerk malerischer oder architektonischer Ornamentik überwuchert, statt ihn zu erhöhen und hinauszuheben über alle Realität in das Reich des holden Scheins.
Das Bühnenbild hat seine eigenen Maßstäbe und gehorcht eigenen Gesetzen von Proportion und Perspektive. Der Baustoff, aus dem es entsteht (Leinwand auf Lattenrahmen gespannt, Pappe oder allenfalls Sperrholz), dies leichtbewegliche, zum Teil fragile Zeug schreibt ihm Gesetze vor, so verschieden von denen der „echten“ Baukunst, daß ein unleidliches Zwitterwesen entstehen muß, sobald man beides einander ähnlich machen und etwa mit kaschierten Gebilden aus Drahtgewebe und leimgetränkten Lumpen den behauenen Stein eines Mauerwerks vortäuschen will. Das beleidigte und verletzte Kunstgesetz rächt sich, und als naturalistische Nachahmung halb läppischer, halb rührender Art erscheint, was als höhere Wirklichkeit sich hätte, ausweisen sollen.
Der Materialknappheit des Tages, die den Bühnenbildner gelehrt hat, jeden verrosteten Nagel, jeden Quadratmeter Kulissenleinwand, vielfach bemalt und von Leimfarbe dick verkrustet, als kostbaren Schatz anzusehen, muß er zuvorkommen. Seine Arbeit kann nur gewinnen, wenn er den Teil für das Ganze setzt, die Abbreviatur für das kleinlich bis in den letzten Winkel ausgedeutete Abbild der Realität. „Es ist nichts theatralisch, was nicht für die Augen symbolisch wäre“, sagt Goethe in den Maximen und Reflexionen und schließt in diesen Satz eine ganze Ästhetik der Szene mit ein.
Daß wir einem symbolisierenden Expressionismus das Wort redeten oder einer abstrakten Konstruktion, diesem Verdacht glauben wir mit einem Hinweis auf unsere geleistete Arbeit begegnen zu können, aus der wir drei Beispiele anführen: Offenbachs „Pariser Leben“ (in der Inszenierung von Walter Felsenstein), den „Soldat Tanaka“ von Georg Kaiser und Nestroys Posse „Frühere Verhältnisse“. Dreimal, bei drei grundverschiedenen Aufgaben des Theaters (bei der Buffo-Oper, der Tragödie und der Dialektposse) haben wir versucht, dem Schein das Ansehen einer gesteigerten Wirklichkeit zu geben. Dreimal haben wir uns bewußt aller naturalistischen Mittel beigeben, um den Zauber und die Verzauberung durch das Theater ganz zur Geltung zu bringen. Wir haben versucht, dem Schauspieler so viel Raum wie nur möglich zu geben, wir vergrößerten sogar die begrenzten Bühnenmaße ,auf listige und küntsliche Weise durch schräg ansteigenden Boden und perspektivisch verkürzte Seitenwände. Wir schoben alle dekorativen Elemente buchstäblich an den Rand, um Platz zu schaffen für Seine Majestät den Schauspieler und für sein Gefolge von Tänzern und Figuranten. Nichts bezeichnete den Offenbachischen Bahnhof als eine dünne, gittertragende Säule, eine Bank, ein Drehkreuz und eine Eisentreppe. Drei Spitzenvorhänge und eine Anzahl glaskugelbestückter Kandelaber behaupteten, der Ballsaal einer adligen Dame zu sein. Der Phantasie des Betrachters wird zugemutet, die Teile zum Ganzen zu fügen: zum Ganzen, das freilich heimlich darin verborgen sein mußte nach vorgefaßtem Plan und das es nur herauszusehen galt. Denn das Theater ist zur anderen Hälfte das Werk des Zuschauers. Im „Tanaka“ war die Einsamkeit des angeklagten Soldaten vor dem Militärtribunal bestimmt durch den leeren, öden, vom fratzenhaften Bild des Tenno beherrschten Raum. Bei der Posse von den „Früheren Verhältnissen“ versuchte die übertriebene Perspektive des Szenenbildes das ironisch-grimmige Pathos Nestroys ins Optische zu übersetzen.
Immer ging es uns um mehr als um die bloße „Ausstattung", nämlich um ein Sinnbild für den geistigen Raum des Werks, immer versuchten wir, den Blick auf den Menschen zu reißen, auf seinen komischen oder tragischen Maskenmund; deshalb waren unsere Farben sparsam, und die Figurine des Darstellers schien uns wichtig vor allem anderen. Wir haben der diffizilen Funktion des Bühnenlichts viel Aufmerksamkeit gewidmet, weil seine verwandelnde Macht am ehesten geeignet ist, das starre Szenenbild dem beständig wechselnden dramaturgischen Vorgang anzugleichen. Man kann den Bühnenraum, der die Welt „bedeutet", nicht nachahmt, durch wechselndes Licht und wechselnde Schatten völlig verändern, ja in seiner Struktur und Technik geradezu aufheben und in ein Traum- und Phantasiegebilde eigener Art verwandeln.
Nicht durch programmatisches Theoretisieren sind wir zu diesen Ergebnissen gekommen, sondern durch die Erfahrung langjährigen Bemühens. Auch bilden wir uns nicht ein, Neuartiges, Neuwertiges hier vorzubringen – nichts weiter teilen wir mit als einige elementare Grundgesetze des lebendigen Theaters. Was wir aber hier schuldig geblieben sind an Einsicht und Erkenntnis, das hoffen wir mit künftigen Inszenierungen nachholen zu können; denn vom Anschauen halten wir mehr als vom Beschreiben. Und gar was das Theater betrifft, ist der Augenschein allemal überzeugender als das theoretische, Klügeln und Deuten.