Gespräch
Mit Vollgas einen jahrhundertealten Helden weitertragen
Interview mit Estelle Charlier, Compagnie La Pendue (Frankreich)
von Sofie Neu und Estelle Charlier
Erschienen in: double 52: Superheld, Spaßmacher, Systemsprenger – Kasper und Co. in schwierigen Zeiten (11/2025)
Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Sofie Neu: Was bedeutet für dich Tradition im Puppentheater?
Estelle Charlier: Im Gegensatz zu Folklore, in der man immer dieselben Szenen, Kostüme und Bewegungen wiederfindet, durchläuft Tradition verschiedene Epochen und Gegenden, lässt sich von ihnen inspirieren und passt sich frei an. Während Romuald und ich zwanzig Jahre lang das Stück „Poli Dégaine“ gespielt haben, haben wir selbst immer wieder Figuren, Gags und Szenen geändert, um unseren Pulcinella lebendig zu halten. Wir sind mit ihm aufgewachsen, wir müssen sein Schicksal (und unser eigenes) bei jeder Aufführung neu erfinden, das ist fragil und kostbar.
Mit den Produktionen „Le Remède de Pulcinella“ und „Poli Dégaine“ habt ihr Pulcinella intensiv erforscht. Was habt ihr dabei gelernt?
Wir wollten unsere Kunst von Grund auf entwickeln, indem wir die vierhundert Jahre alte Figur neu interpretieren. Wir haben uns ohne Proben auf die Straße gewagt und improvisiert. Die Technik der Handpuppe im direkten Kontakt mit dem Publikum und im Rhythmus der Straße zu erarbeiten, war eine ideale Einführung in die Geheimnisse dieser Kunst und wurde zum Grundpfeiler meiner Arbeit. Pulcinella ist eine libertäre Figur, die die Dualität des Menschen, die Spannung, den Kampf oder die Verbindung von Gegensätzen verkörpert.
Ihr wart viel auf Tournee. Was löst Pulcinella...
