Magazin
Visionär in archetypischer Landschaft
Zum 70. Geburtstag von Dimiter Gotscheff
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Nüchterner Rausch – Der Schauspieler Steven Scharf (04/2013)
Wie beginnt Neues? Nicht mit einem großen Schritt, nicht mit dem Zerbrechen jeder Tradition, das wäre bloß eitel und unergiebig, die alte Falle, in der sich die Avantgarde verfängt. Das Neue beginnt, indem man dem längst Bekannten etwas ablauscht, was einen selbst verwundert. Das Wissen, dass das Alte gar nicht so alt ist, wenn man es nur recht bedenkt.
So wie Dimiter Gotscheff an sich selbst immer noch etwas entdeckt, was ihn erstaunt. Er liest Shakespeare, Tschechow oder Heiner Müller fortgesetzt mit jener Verblüffung, die konstatiert: Das ist ja gar nicht vergangen, das fängt erst an! – Wie jeder, dem es ernst mit dem Neuen ist, pflegt er das Alte, lauscht den längst bekannten Texten nach, den Worten, den Silben darin. Wer etwas sagen will, muss zuvor hinhören, was gesprochen wird, selbst dann, wenn alles schweigt. Gotscheff inszeniert wie ein alter bulgarischer Bauer, der weiß: Wer ernten will, muss säen.
Dieser Regisseur erwartet immer etwas von einem Stück, von seinen Schauspielern. Und weil das so ist, muss er die Erwartungen anderer auch enttäuschen. Wer den Dingen lange nachlauscht, der beginnt etwas zu hören, was anderen Ohren ungewohnt klingt, was anderen Augen befremdlich scheint. Gotscheff hat ein intimes Verhältnis zum Ursprung...