Theater der Zeit

Anzeige

Auftritt

Thalia Theater Hamburg: Mechanisch, Flüchtig, im Fluss?

„Die Jahre“ nach dem Roman von Annie Ernaux – Regie Jette Steckel, Bühne Florian Lösche, Kostüme Pauline Hüners, Kompositionen Anna Bauer, Video Zaza Rusadze, Choreografie Dominika Knapik

von Peter Helling

Assoziationen: Theaterkritiken Hamburg Jette Steckel Thalia Theater

Eine Feier der Bühne? Jette Steckel adaptiert Annie Ernauxs „Die Jahre“ als Abschlussinszenierung am Thalia Theater Hamburg.
Eine Feier der Bühne? Jette Steckel adaptiert Annie Ernauxs „Die Jahre“ als Abschlussinszenierung am Thalia Theater Hamburg.Foto: Armin Smailovic

Anzeige

Anzeige

„Alle Bilder werden verschwinden“ – der Satz steht wie eine Überschrift über dem Abend. Angepinnt vom Ensemble, Buchstabe für Buchstabe, an einen sich drehenden transparenten Zylinder, in dessen Mitte die Live-Band sitzt. Alles ist im Fluss, alles flüchtig. In Gegenrichtung umkreisen die Schauspielerinnen und Schauspieler das rotierende Objekt, an das wahlweise Schwarzweißfotografien eines jungen Mädchens oder utopische Landschaften projiziert werden. Es sind Erinnerungsbilder und Bilder von erträumter Zukunft. Das „Ich“ bei Buchautorin und Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und bei Regisseurin Jette Steckel ist ein „Wir“. Sieben Mädchen, identisch gekleidet, langes dunkles Haar, weiße Bluse, schwarzer Rock, weiße Socken, flache Schuhe (Kostüme von Pauline Hüners). Gespielt von Frauen und Männern: ein multiples Ich, ein Chor der sich Erinnernden, eine Existenz mit vielen Gesichtern. Mit diesem Mädchen gehen wir als Publikum durch „Die Jahre“.

Annie Ernauxs autobiografischer Roman aus dem Jahr 2008 dokumentiert eine Epoche, unsere Epoche. 1940 geboren, in Nord-Frankreich, einem Provinzstädtchen. Als Wegmarken durch die Jahre dienen einzelne Fotografien, die Jette Steckel klugerweise wie Schnappschüsse als Theaterfutter nutzt: Wenn eines der sieben „Ichs“ beschreibt, wie das Familienfoto aussieht, werfen sich die anderen dramatisch oder ironisch in Pose. So beginnt der Abend als ein szenisches Fotoalbum: das „Ich“ als Baby, als Kleinkind, als Jugendliche. Ein Album, das immens viele Möglichkeiten bietet, dem Ensemble beim Spielen, beim sich Verwandeln, auch beim Grimassieren zuzusehen. Am Anfang hat das den Charme und die Direktheit eines Films der Nouvelle Vague, wo ganz selbstverständlich ein Mädchen den Rock hochzieht, um am Bühnenrand zu urinieren, ein anderes, in Gestalt von Jirka Zett, in eine kleine Tanzbewegung gerät, beim Vorausträumen der Jugend und der erfüllten Lust, da funktioniert dieser Theaterabend bestens. Ja, das technische Wort „funktionieren“ passt hier, denn die Inszenierung von Jette Steckel hat – leider – von Vornherein etwas Mechanisches und Kalkuliertes.

Einerseits ist es die Bühnen-Mechanik des transparenten Zylinders, der natürlich an eine Filmrolle erinnert oder an eine Wundertrommel, an eine frühe Projektionsmaschine vom Jahrmarkt (Bühne Florian Lösche), Erinnerungsapparate auch diese. Mechanisch aber auch deshalb, weil die Band unter der Leitung von Arne Bischoff in der Mitte der Bühne tatsächlich fast das ganze Stück hindurch spielt (Kompositionen Anna Bauer) – zwar wahnsinnig gut, aber alle Emotionen und Zeitumbrüche durch Klangteppiche vorwegnehmend. Man bekommt pausenlos vorgekaut, was sich wie anfühlen soll. Das ermüdet nicht nur, sondern kleistert die leicht gesponnenen, spröden autobiografischen Details Annie Ernauxs zu. Ein Hauch Musical weht durchs Theater. Eine „Mechanik“ aber drängt sich vor allem auf: Denn natürlich hat Jette Steckel, langjährige Hausregisseurin am Thalia Theater unter dem scheidenden Intendanten Joachim Lux, die Aufgabe, das Thalia-Ensemble nochmal richtig glänzen zu lassen, bevor Sonja Anders nächste Spielzeit das Haus übernimmt. Jeder und jede bekommt ihren, seinen Auftritt. Neben den zentralen Sieben sind es fast alle anderen auch, die in kleinen gespickten Miniaturmomenten die Bühne betreten wie Models den Laufsteg, kurz ihr Gesicht zeigen, meistens einen bedeutungsvollen Blick werfen, um dann wieder zu verschwinden. Das ist ehrenwert, aber auch ganz schön zäh.   

„Alle Bilder werden verschwinden“ – der schöne und todtraurige, weil wahre Satz ist hier zweischneidig: Denn ist Theater an sich nicht immer auch eine Erinnerungsmaschine, die diesem Satz etwas entgegen setzt? Und will Jette Steckel dem Publikum nicht ihre mächtigen Bild-Kompositionen geradezu einhämmern, um zu sagen: Dieses Bild vergesst ihr bestimmt nicht? Wir gehen mit dem Mädchen durch die Jugend, sehr schön Cathérine Seifert als maulender Teenager, wir erleben erstes sexuelles Begehren, Maja Schöne als junge Frau in ihrer ersten Blue Jeans. Die Studierenden-Proteste 1968, Vietnamkrieg, das erste eigene Kind: die auch harten „Jahre“ der weiblichen Ich-Figur bekommen  in dieser Version etwas Episodisches, Nostalgisches. Natürlich kann sich das Publikum mit den einzelnen Jahres-Ereignissen identifizieren, mit Sit-ins und Ringel-Pullunder, mit Disco und ersten Drogen, mit dem Mauerfall und dem vermeintlichen Ende der Geschichte. Aber hier kollidieren zwei Ziele des Regieteams. Das luftig-leichte, fast „banale“ Erzählen der „Jahre“ und der ständige Zeige-Gestus eines Ensembles, das sich verabschiedet.

Am Ende tanzen alle im transparenten Zylinder, an den Sterne projiziert werden, das will wohl sagen: Wir sind aus Sternenstaub, das Theater insbesondere, natürlich ist es auch eine Feier der Bühne. Aber die Gegenwart eines Theater-Erlebnisses entsteht so nicht, stattdessen bleibt es ein melancholisch-kitschiger Rückblick, eine Revue mit Tanzeinlagen. Der Partyschluss will an diesem eh überlangen Abend auch nicht enden und rutscht sehr ins Private.  Dann frieren sie alle ein mit lachenden Gesichtern, emporgereckten Armen, ein Bild, das verschwindet? Auch das. Ein großartiges Ensemble? Auf jeden Fall. Aber leider eine Abschiedsinszenierung, die sentimental ist. Und sich eben gerade nicht zum Flüchtigen bekennt. Dennoch, stehender Applaus.  

Erschienen am 28.5.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Offen! internationals figurentheater
Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz