Bleiben oder gehen
Gedanken zur Wendezeit
von Ingo Schulze
Erschienen in: 150 Jahre Theater Altenburg (04/2021)
Ich bedauere es, damals kein Tagebuch geführt zu haben. Dabei war doch den meisten von uns klar, dass wir solche Tage, Wochen, Monate noch nicht erlebt hatten. Und damit meine ich schon den August und September 1989. Es lag in der Luft: Der 40. Jahrestag der DDR würde anders als alle anderen Jahrestage werden.
Ich habe gelernt, skeptisch gegenüber den eigenen Erinnerungen zu sein. Sie müssen durch Archivstudium und Erinnerungen anderer ergänzt, relativiert, berichtigt und geschärft werden. Bei mir kommt erschwerend hinzu, dass ich in meinem Roman Neue Leben, dessen Hintergrund meine eigenen Lebensstationen bilden, bereits davon erzählt habe, also schon eine Erzählung über der Erinnerung liegt.
Das Landestheater Altenburg war meine erste Arbeitsstelle. Im September 1988 begann ich in der Schauspieldramaturgie. Als Praktikant hatte ich u. a. in der Inszenierung von Klaus Fiedler Fräulein Julie teilnehmen können, mit Karin Mikityla als Julie, Uwe Steinbruch als Jean, Karin Kundt-Petters als Zofe und dem allwissenden Peter Dittmer als Bühnenbildner und Ratgeber. Diese Inszenierung wurde eine der schönsten überhaupt, die ich gesehen habe, nicht nur in Altenburg. Die Premiere muss im Mai oder Juni 1988 gewesen sein. Fräulein Julies unentwegte Frage, ob sie bleiben oder gehen soll, wurde so kunstvoll wie...