Selbstmord der Gattung
Ein Grenzwert in Müllers Werk
von Wolfram Ette
Erschienen in: Recherchen 154: Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller (01/2021)
Im Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet schreibt Müller Anfang der achtziger Jahre:
Die totale Zerreißprobe, der die menschlichen Kollektive in unserem (vielleicht, wenn der Widerstand leerläuft und seinen Platz zwischen den Polen verfehlt) letzten Jahrhundert ausgesetzt sind, wird die Menschheit nur als ein Kollektiv überdauern. Der kommunistische Grundsatz KEINER ODER ALLE erfährt auf dem Hintergrund des möglichen Selbstmords der Gattung seinen endgültigen Sinn. Aber der erste Schritt zur Aufhebung des Individuums in diesem Kollektiv ist eine Zerreißung, Tod oder Kaiserschnitt die Alternative des NEUEN MENSCHEN. Das Theater simuliert den Schritt, Lusthaus und Schreckenskammer der Verwandlung. In diesem Sinn ist Philoktet gegen die modisch kurz schließende Interpretation als Drama der Ent-Täuschung das Negativ eines kommunistischen Stücks. (W8, S. 260 f.)
Das ist meines Wissens die prominenteste Stelle, an der der Begriff des »Selbstmords der menschlichen Gattung« auftaucht. Er findet sich – wörtlich oder sinngemäß sehr häufig in den Gesprächen, die Müller ab den achtziger Jahren in immer größerem Umfang geführt hat.1 Der Brief an den Regisseur ist aber sicherlich der programmatisch wichtigste und am meisten durchgearbeitete Text, in dem die Wendung sich findet. Man muss sie also sehr ernst nehmen. Die Spannung, unter der diese Stelle...