Das Theater leben: DIE HANDLUNG
75 Selbstzerstörung
von Julian Beck
Erschienen in: Das Theater leben – Der Künstler und der Kampf des Volkes (05/2021)
Dämmerlicht. Letzter Blick zurück.
Ein Teil meines direkten Erbes ist lesen, schreiben, aufgepfropft von meiner Familie, Jüdisch.
Das Judentum (entsprechend auch die Jüdische Familie) verleiht dem Geheimnis des Schreibens und Lesens sakrales Gewicht, das heilige Wort, die Verbindung zur göttlich inspirierten Vergangenheit, das Wort ist Botschaft an die ebenso göttliche Gegenwart und Zukunft, das Wort, gesprochen, geschrieben, gelesen und vertieft, war das magnetische Zentrum meiner Kindheit und Jugend, meiner frühen Jahre. Später lernte ich, was die Tat bedeutet. Wir Juden, die wir uns so stark am Kollektiv ausrichten, suchen Verwirklichung durch das Kollektiv, streben nach kollektivem Austausch durch Schreiben und Lesen. Wir suchen Gemeinschaft durch gemeinsames Studium. Das hat mit dem Sieg über den Tod zu tun.
Ein neunzehnjähriger Junge mit schönem langem Haar sagt im Januar 1969, Niemand liest mehr richtig, wir haben einen Berg Bücher und lesen darin, aber niemand liest mehr ein Buch von Anfang bis Ende, so denken wir nicht. Im Jahr 1969.
Das gesprochene Wort und das menschliche Gesicht: das Höchste an Erfahrung. Gutkind.
Alphabetisierung. Lesen: Ritus des Studiums. „Lesen verdirbt den Charakter.“ Mao, der hungrige Leser, er beschreibt Berge von Papier, der Dichtergeneral.
Lesen ohne zu handeln ist Vampirismus: aufnehmen und nichts abgeben....