Kleiderständer der Geschichte
Mythosrezeption bei Heiner Müller und Volker Braun
von Andrea Geier
Erschienen in: Recherchen 154: Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller (01/2021)
Literarisches Recycling ist der grundlegende Modus der Mythosrezeption. Autor*innen akzentuieren in eigenständiger Weise eine Variante einer mythologischen Geschichte, indem sie aus einer langen Tradition Handlungselemente und Motive auswählen, oder sie schreiben sie radikal um. Von der Nachdichtung bis zur Mythoskorrektur sind literarische Mythosrezeptionen plakativ auf Sichtbarkeit und Wiedererkennung angelegt.1 Dem Publikum kann über die spezifische Transformation einer als bekannt vorausgesetzten Tradition eindrücklich die eigene ästhetische Programmatik, die Kunstfertigkeit im Umgang mit dem literarischen Erbe und/oder – last but not least – eine bestimmte Weltdeutung vor Augen geführt werden. Diese Kommunikation mit dem Publikum wird oft in spezifischer Weise gelenkt und auch intensiviert durch Bezüge auf einzelne Werke aus der Rezeptionsgeschichte: Christa Wolfs Medea-Roman etwa setzt sich nicht nur mit Plotelementen und Motiven auseinander, die wesentlich durch Euripides geformt wurden. Sie weist auf diese Tradition und weitere Deutungsgeschichten auch in Motti-Zitaten hin, unter anderem aus Senecas und Euripides’ Medea-Dramen, die den einzelnen Roman-Kapiteln vorangestellt sind.2
Für die Literaturgeschichte sind die intertextuellen Verfahren der literarischen Mythosgeschichte interessant. Die Auswahl der Autor*innen ist eine wichtige Spur, wenn rekonstruiert werden soll, wie wirkmächtige Erzähltraditionen eines Mythos entstehen und von Autor*innen im Resonanzraum ihrer jeweiligen Gegenwart weiter- oder umgeschrieben werden. Das literarische Verfahren...