Bericht
Der Engel vieler Geschichten
Willem Dafoe kuratiert die Biennale teatro in Venedig – mit einem Rückblick auf die Theateravantgarde vor 50 Jahren und feinem Gespür für die Gegenwart
von Thomas Irmer
Assoziationen: Europa Dossier: Festivals Willem Dafoe
Erschienen am 14.6.2025
In einem Boot für knapp dreißig Passagiere geht es zur Isola del Lazzaretto Vecchio, der kleinen Lazarett-Insel vor dem Lido, wo einst vor allem Pest- und Cholerakranke vom geschäftigen Leben Venedigs isoliert wurden. Für die bedrückend wirkenden Verliese dort hat Romeo Castellucci, zweifellos Italiens bedeutendster Performancekünstler, seine neueste Arbeit für die Biennale entworfen. „I mangatiori di patate“ (Die Kartoffelesser) fängt mit einem Gang durch die scheinbar unendlichen dunklen Räume an, geführt von einer jungen Frau mit Taschenlampe. Erst ist in einem Nebenraum ein Fleck beleuchtet, in dem sich eine Gestalt in einer Plastikplane zu winden scheint. Im nächsten Raum dann scheint ein mechanisch bewegter Roboterarm eine genauso verpackte Figur zu traktieren. Weiter geht es, und nun ist auch die Taschenlampe aus, völlige Finsternis. Ein Höllenlärm wie von einem Flugzeugjet hebt an, dazu Luftzug, als würde man gleich weggeblasen, minutenlang. Orientierung nicht mehr möglich, da alles auch völlig unerwartet in diesen unbekannten Räumen. Allmählich wird eine große Figur mit Flügeln deutlich, die sich von den Zuschauenden ins Hintere des Gangs fortbewegt – ein Engel im abflauenden Sturm als rundum physisches Erlebnis. Als es ein bisschen heller wird durch eines der wenigen Fenster im Verlies der Kranken, erscheinen wie Bergleute angezogene Gestalten...
Erschienen am 14.6.2025
