Theater der Zeit

Vorwort

von Sebastian Kleinschmidt

Erschienen in: Recherchen 11: Brechts Glaube – Brecht-Tage 2002 (01/2002)

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Vom 10. bis 15. Februar fanden im Literaturforum im Brecht-Haus die Brecht-Tage 2002 statt. Sie wandten sich einer Problematik zu, die in der Geschichte dieses traditionsreichen Kolloqiums bisher nicht erörtert worden war, der Gretchen-Frage nämlich, an Brecht gestellt: »Nun sag', wie hast du's mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein ich glaub', du hältst nicht viel davon.« Das Thema lautete: BRECHTS GLAUBE.

Wollte man den Begriff Glaube ausschließlich theologisch verstehen, kämen wir in Schwierigkeiten. »Dantes Glaube«, »Goethes Glaube« - ja, selbst »Heines Glaube« leuchtete ein, natürlich auch »Kafkas Glaube«. Aber »Brechts Glaube«? Brecht war Atheist - religiös unmusikalisch, um mit Max Weber zu sprechen -, und sein Atheismus war echt, trotz der Tatsache, dass die Bibel zu seiner Lieblingslektüre zählte. Und als Philosoph war er Materialist, funktionalistisch denkender Materialist, sollte man sagen. Nicht dass ihn etwas mit Heidegger verbunden hätte, doch in einem hätte er ihm zugestimmt: »Philosophie ist ein Handaufheben gegen Gott.« Auch er hätte sagen können, was Heidegger 1924 sagte: »Der Philosoph glaubt nicht.« Vielleicht hätte Brecht im stillen hinzugefügt: auch der Dichter nicht. Hauptkennzeichen seines Denkens waren Diesseitigkeit, Skepsis und Rationalität. Religion hatte darin keinen Platz. Er war der Ansicht, sie habe die Funktion, eine schlechte gesellschaftliche Wirklichkeit zu rechtfertigen, sie sei hinderlich dabei, dem Menschen zu helfen, seine Lage zu bessern. Der junge Brecht hatte eine unbändige Freude an der Profanierung alles Heiligen, am Leerräumen des Himmels, an Entweihung und Destruktion. Hinzu kam sein Horror vor Gefühlsübertreibung. Doch seit seine nihilistischen Anfänge hinter ihm lagen, seit er 1926 mit dem Marxismus in Berührung gekommen war, interessierte ihn das Konstruktive und Verbindliche, die Setzung einer Idee, die das Überkommene von Grund auf in Frage stellte. Die Religion sah er, wie marxistische Religionskritik sie sah: Als Seufzer der bedrängten Kreatur, als geistiges Aroma einer verkehrten Welt, als Opium für das Volk. »Die Kritik der Religion«, hatte Marx 1844 geschrieben, »enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt. Es ist also Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.«

So sah auch Brecht die Dinge. Auch für ihn wurde aus dem Nein zur Religion ein Ja zur Revolution. Ein Ja zum Kommunismus, zur Großen Ordnung, wie er es nannte. Die Revolution als Gebot der Geschichte, der Marxismus als Wahrheit des Diesseits - das war Brechts Überzeugung und blieb es bis zu seinem Tod. Für ihn war das kein Glaube, sondern kühle Frucht des Wissens, philosophisch gerechtfertigte Vernunft, angewandte Gesellschaftswissenschaft.

Brecht war wie kein zweiter deutscher Dichter seit Schiller auf Begründung durch Philosophie und Sozialtheorie fixiert. Seine künstlerische Grundintention war kognitiver Art. Brechts in der Geschichte des poetologischen Denkens einzigartig dastehende Idee lautete: Fundierung der Kunst durch Wissenschaft. Was die Größe und Unanfechtbarkeit der Wissenschaft ausmacht: Methodisch gesichertes Erkennen, Objektivität und Evidenz, eine Wahrheit also, die zur Anerkennung zwingt, weil sie beweisbar ist - durch Logik und Argument, durch Erfahrung und Experiment -, ein analoges Wahrheitswissen sollte auch der Kunst möglich sein. Sie durfte nur nicht mehr in den Aggregatzuständen nachhinkenden Bewusstseins - der Privatheit des Gefühls, der Irrationalität der Phantasie, der Vagheit des Traums - verankert sein. Kunst wird ganz auf Wissen gestellt. Die Zielstellung ist aufklärerisch und didaktisch. Lerne, was undurchschaubar scheint, zu durchschauen, und lehre es die anderen. Solches Lernen und Lehren sei die eigentliche Unterhaltung des intelligenten Menschen. Ein Theater, das dies freisetzt, sei eine Stätte höchsten philosophischen Vergnügens. In ihr genieße sich der Mensch, der die Welt verändern will.

Aus theologischer Perspektive wird man nicht sagen können, dass Brecht einen Glauben besaß. Doch gerade das glaubenslose 20. Jahrhundert, das Zeitalter der ideenfixierten, auf Rationalität pochenden Leidenschaft, zeigt, wie schnell eine vom Zweifel abgeschirmte Überzeugung in Glauben umschlagen kann. In einen Glauben, der die unterdrückten Zweifel nicht löst, sondern verzehrt. So dass am Ende nicht wir es sind, die eine Überzeugung besitzen, sondern die Überzeugung es ist, die uns besitzt. Glaube umgreift mehr als religiöses Begehren und ein Bewegtsein von der Gottesfrage. Kein Mensch kommt ohne Glauben durch die Welt. Goethe: »Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.«

Woran aber glaubte der ungläubige Brecht? Vor allem daran, dass man, wenn man dem Menschen helfen will, die Welt verändern muss, und zwar radikal und von Grund auf. Das geistige Mittel dazu hatte er in der Geschichtsphilosophie des Marxismus gefunden. In einem Ideengebäude, das nicht nur ein Plan war, die Hauptprobleme der modernen Menschheit zu lösen, sondern das Versprechen enthielt, die Antagonismen der menschlichen Existenz zu überwinden. In solcher Verheißung steckte, mit Ernst Bloch zu sprechen, der theologische Glutkern der Lehre. So nüchtern Brecht auch war, so verstandeskalt, an dieser Glut hatte auch sein Denken Feuer gefangen. Der Marxismus erschien ihm als höchste Form souveränen Denkens, als Krönung der Vernunft. Er, der glaubte, an nichts zu glauben, der oft und gern den Zweifel lobte, zweifelte nicht, als es um den Kommunismus ging. Von seinem Kommen war er überzeugt. Den Härten, die er mit sich brachte, blickte er ins Gesicht. 1935 schreibt er in einem Brief an den Schriftsteller Bernard von Brentano: »Die Umwälzung ist nicht ohne Unterdrückung der Widerstrebenden, kaum ohne die der Willigen zu bewerkstelligen.« Brecht sah sich als Dichter im Einklang mit der »historischen Notwendigkeit«. Sie war ihm Fundament des Sinns, Festung gegen den Illusionismus der religiösen und Festung gegen den Nihilismus einer areligiösen Welt.

»Wer den Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt nicht versteht oder verstehen will«, schreibt rückblickend Eric Hobsbawm, »der kann die moderne Geschichte nicht begreifen.« Das gilt auch für das Begreifen Brechts. Und, vielleicht in anderer Weise, auch für das Erkennen unseres Abstands zu ihm. Eines Abstands, der selbst mit der Frage zu tun hat, woran wir denn glauben und woran nicht.

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