Das Theater leben: DIE HANDLUNG
55 Das Ritual
von Julian Beck
Erschienen in: Das Theater leben – Der Künstler und der Kampf des Volkes (05/2021)
Wenn das authentische Ritual beginnt, wenn die Gnawas auf den Hof kommen und spielen und tanzen und in Trance geraten, wird man hineingezogen, man öffnet die Fenster, tritt auf den Balkon, man öffnet sich, wissend, dass dies nicht nur abstrakte Musik ist, wissend, dass die Dämonen aus dem Haus vertrieben werden, wissend, dass nun das Glück, der Geist der Freude eintreten kann. Wenn das Weinglas erhoben wird und die hebräischen Worte ausgesprochen werden, baruch, sei gesegnet, erinnert sich dein tiefstes Ich an das physikalische/chemische/biologische/metaphysische Wunder/Leben: Es tilgt die stumme und blinde Erfahrung: Es heiligt das Sein: Es macht es leichter, etwas zu erschaffen, und schwerer zu töten.
Ein Ritual aufzuführen, indem man es mechanisch wiederholt, ist nichts anderes als gelebte Konter-Revolution. Aus Mattigkeit: Was wir leisten müssen, um in diesem System den Alltag zu bestehen, lässt uns zu wenig Energie übrig, als dass wir aufmerksam sein könnten. Nicht das Wesen des Rituals ist problematisch, sondern das Leben, in dem es passiert. Gleichzeitig muss das Ritual derart ans Leben gekoppelt sein, dass es in der Lage ist, dieses Leben zu beleben. Ein Ritual darf nicht institutionalisiert werden. Institutionen thronen über dem Leben und erdrücken es.
Hier eine Warnung an die...