Die Verausgabung des ‚Dramas der Geschichte‘ in Heiner Müllers Der Bau
von Lars Krüger
Erschienen in: Recherchen 109: Reenacting History: Theater & Geschichte (02/2014)
Dramatische Handlung als Garantin von Sinn und Geschichte
In seiner Poetik unterscheidet Aristoteles die Gegenstandsbereiche von Dichtkunst und Geschichtsschreibung kategorisch: Während der Historiker sich allein mit dem Besonderen befasse – „was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen“1 – sei die Tätigkeit des Dichters ernsthafter und philosophischer. Während jener einen Zeitabschnitt darstellt, in dem „alle Ereignisse, [...] in einem rein zufälligen Verhältnis stehen“2, besteht die Herausforderung für den Dichter gerade darin, die Geschehnisse einer Fabel in eine sinnvolle ordnung zu bringen: „Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung.“3 Mit dem Begriff der Handlung sind die aristotelischen Forderungen von Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit und Geschlossenheit verbunden.
Die Teile der Geschehnisse [müssen] so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.4
Während der Geschichtsschreiber also die Aufgabe eines Chronisten erledigt, schafft der Dichter eine durch und durch vom Geist durchdrungene Form. Dies ist unter anderem an Aristoteles’ Feststellung ablesbar, „daß sich die Tätigkeit des Dichters mehr auf die Fabeln erstreckt als auf die Verse“5. Die Forderung...