Die Praxis der Historisierung zwischen Fakt und Fiktion
Jonathan Littells Die Wohlgesinnten
von Andrea Hensel
Erschienen in: Recherchen 136: Recycling Brecht – Materialwert, Nachleben, Überleben (07/2018)
Historisierung bedeutet nach Brecht eine Verfremdung der Gegenwart: „Verfremden heißt historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen.“1 Damit ist jedoch weder gemeint, dass die Vergangenheit schlichtweg in der künstlerischen Gegenwart abgebildet, verkörpert oder bestenfalls sinnlich erfahrbar gemacht wird. Noch geht es bei der Praxis der Historisierung primär um eine Versetzung in andere Zeiten und Räume. Die Praxis der Historisierung zielt vielmehr auf eine doppelte Bewegung aus historischer Wiederholung und gegenwärtiger Überschreitung, die überaus wichtig ist.2 Indem Charaktere, Vorgänge oder gegenwärtige Zeitgenossen als zeitgebunden, als historisch und vergänglich dargestellt werden, entziehen sie sich automatisch der eigenen Gegenwart und damit einer unreflektierten Einfühlung in die dargestellten, nicht-gegenwärtigen Ereignisse und Figuren. Gleichzeitig aber werden ebendiese Ereignisse und Figuren in der Gegenwart überschritten, sie werden mittels der Wiederholung aktualisiert und veränderbar. Durch die Praxis der Historisierung kommt es folglich zu einem Oszillieren der Zeiten, zu einem Hin-und-her-Springen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen historischer Darstellung und ihrer gegenwärtigen Aushandlung. Dieses Dazwischen, das im Medium der Kunst erzeugt wird, ist entscheidend für eine historische Erfahrung. Es ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Geschichte, die zwischen Annäherung und gleichzeitiger Distanznahme changiert und sich jenseits von unreflektierter Einfühlung und Verkörperung offenbart.
Um die Praxis...