Speculative Thinking: Eine Politik der Fragilität
von Yener Bayramoğlu
Erschienen in: Learning for the Future – Zukunftskonferenz für die Darstellenden Künste (04/2024)
Wenn wir vom Jahr 2040 aus auf unsere Gegenwart im Jahr 2022 zurückblicken würden, würden wir sehen, dass insbesondere mit dem Ausbruch der Pandemie ein Gefühl der Fragilität sich in der Gesellschaft entfaltete. Der Boden unter den Füßen war brüchig. Es handelte sich um eine Fragilität, die vielen unheimlich erschien: Selbst der weiße, bürgerliche, heterosexuelle Körper sah seiner eigenen Auslöschung ins Auge. Das führte zu einem neuen permanenten Gefühl der Unsicherheit innerhalb hegemonialer Gruppen: Jede Nachbarin könnte eine Terroristin sein, jeder Kollege ein potenzieller Stalker. Die organischen, aber auch Computerviren könnten jederzeit die menschliche Ordnung auf den Kopf stellen. Es war lediglich eine Frage der Zeit, wann das große Unglück passiert.1
Nach vielen globalen Krisen seit 2022 hätten wir tatsächlich schmerzhaft gelernt, dass wir uns von der Politik der Stärke entfernen müssen. „Die Politik der Stärke“, wie ich zusammen mit María do Mar Castro Varela in dem Buch Post/pandemisches Leben: Eine neue Theorie der Fragilität formuliere, basiert auf einer Verzerrung der Realität sowie der bewussten Produktion von Ignoranz.2 In dieser Politik spiegelt sich der Unwillen wider, sich mit der eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen. Dieser Unwillen ist zerstörerisch und mörderisch: Für das eigene sofortige Wohlgefühl werden reale Gefahren externalisiert, verleugn...