Heiner Müllers Bauern
von Sandra Fluhrer
Erschienen in: Recherchen 154: Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller (01/2021)
Bauern und Klasse
In der Geschichte der Klassenkämpfe und des Klassenbewusstseins hat die Bauernschaft keinen klaren Ort. Bauern gelten als stimm- und haltungslos, geschichtslos, unpolitisch. Die süddeutschen Bauernaufstände der Reformationszeit sind ebenso von Widersprüchen geprägt wie die Rolle der Bauern in den Revolutionen von 1789 bis 1848 und 1917. Historisch überwiegen lange Zeiten der Unterdrückung und Konstellationen des Opportunismus. Im kulturellen Gedächtnis ist bis heute ein Bild vom Bauern zwischen rückständiger Dummheit und romantischer Archaik verbreitet, das mit der Annahme einer transhistorischen und transkulturellen Kontinuität in der Landwirtschaft einhergeht: Bauern waren, sind und bleiben allerorten bäuerlich. Die Dekonstruktion solcher Agrarmythen steckt noch in den Anfängen.1
In der Klassentheorie lässt sich dementsprechend kein systematisches Bild vom Bauern finden; überhaupt bleibt der Bauer gesellschafts- und rechtstheoretisch wenig belichtet.2 Hegels Dialektik von Herr und Knecht setzt implizit beim abhängigen Bauern an, der sich den Boden aneignet.3 Die landwirtschaftliche Arbeit ist für Hegel aber durch die Abhängigkeit »von der veränderlichen Beschaffenheit des Naturprozesses«, zu der das »Bedürfnis […] zu einer Vorsorge auf die Zukunft« in Konflikt steht, von geringer emanzipatorischer Reichweite; nicht »Reflexion und eigene[r] Wille« stützen die Bauern, sondern Gottvertrauen und Familienverband.4 Entsprechend ist der Bauernstand für Hegel der...