Theater der Zeit

Beckett zum 100.

Beckett

Dass Samuel Beckett für den norwegischen Dichter Jon Fosse ein entscheidender literarischer Bezugspunkt war und ist, zeigt nicht nur Fosses Stück „Da kommt noch wer". Fosses Faszination für den irischen Schriftsteller hat sich vielfach in seinen Stücken, seiner Poetik, vielleicht sogar in seinem literarischen Selbstverständnis niedergeschlagen. Anlässlich von Samuel Becketts 100. Geburtstag im April 2006 hat Fosse exklusiv für TdZ einen Essay geschrieben, der seine literarische Sozialisation mit Blick auf Beckett beschreibt.

von Jon Fosse

Erschienen in: Theater der Zeit: Chor-Zeit – Zur Wiederentdeckung einer Theaterform (04/2006)

Ein Zwölfjähriger nimmt Papier und Bleistift und setzt sich allein hin und schreibt. Er schreibt etwas, das er für ein Gedicht hält. Und es ist tatsächlich ein Gedicht, das sieht er. Und er spürt, dass etwas gesagt ist und dass das Gedicht seinen Platz in der Welt einnimmt, und zwar auf eine ganz andere Weise, als wenn man etwas nur sagt. Das Gedicht steht für sich allein da, in der Welt. Und der Zwölfjährige schreibt Sätze, die eine Figur in irgendeinen Zusammenhang stellen, in dem die Figur etwas tut und sagt, und das, was die Figur umgibt, entscheidet mit darüber, was sie tut und sagt, außerdem gibt es andere Figuren, die ebenfalls etwas tun und sagen, und damit ist alles in Bewegung versetzt. Alles miteinander ähnelt der Welt, doch es geschieht nicht draußen in der Welt, sondern in der eigenen Welt der Sätze. Zu Mustern, zu Sätzen zusammengesetzte Wörter. Nicht die Wörter an und für sich bewirken, dass alles geschieht, sondern die Sätze. Die Welt in den Sätzen. Ich glaube, ungefähr so kann ich meine ersten Erfahrungen mit Dichtung beschreiben. Denn meine ersten Versuche mit dem, was man Dichtung nennen könnte, ereigneten sich, als ich ungefähr zwölf war. Un...

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