Auftritt
Greifswald: Wo ist Alice?
Theater Vorpommern/Borgtheater: „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ von Rolf Kasteleiner. Regie Rolf Kasteleiner, Gamedesign Rolf Kasteleiner und Markus Schubert, Visual Content Daniel Müll
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Sound der Algorithmen – Schwerpunkt Musiktheater (03/2021)
Assoziationen: Theater Vorpommern (Greifswald)
Theater ist aufs Smartphone gewandert. Das kann in Pandemiezeiten eine hübsche Notlösung sein. Bei den Gruppen machina eX oder vorschlag:hammer etwa entstanden sogar reizvolle Erweiterungen, die auch in pandemiefreien Zeiten Bestand haben könnten. Die Gruppe Borgtheater, von Rolf Kasteleiner bereits 2013 in einem frühen Versuch der Verschmelzung von digitalen Ästhetiken und theatralen Praktiken ins Leben gerufen, hat ihr Projekt „Customerzombification“ in Zusammenarbeit mit dem Theater Vorpommern auf der Basis einer extra für Theatergames konzipierten App entwickelt. Toto.io heißt diese Schöpfung des Berliner Gamedesigners Markus Schubert, die bereits von Gruppen wie Prinzip Gonzo und Invisible Playground genutzt wurde.
Man lädt die App herunter, registriert sich und erhält per QR-Code Zugang zum Spiel, das in diverse Räume und Spielniveaus gegliedert ist. Dem analogen Theaterbesuch angepasst, gibt es Situationen vor dem Haus, im Foyer und schließlich im Zuschauersaal. Die digitale Ästhetik dieser Räume ließ sich beim Selbstversuch leider nicht erfahren: Infolge eines Systemfehlers kam der Link zum Youtube-Stream, den man auf einem Zweitgerät parallel verfolgen sollte, nicht an. Warum Kasteleiner nicht die in Toto.io vorgesehenen Schnittstellen für Audio- und Videozuspiele nutzt, sondern auf Youtube und ein zusätzliches Gerät ausweicht, ist verwunderlich.
Die nun folgende Kritik hat wegen des fehlenden Links zum Streamkanal forensische Züge. Anhand des Equipments der Theatergruppe lässt sich schlussfolgern, dass sich Schauspielerin Christiane Waak vor einem Greenscreen, vermutlich im Theater Greifswald, aufhielt und dort als Figur Alice gefilmt wurde.
Inhaltlich, das konnte man auch auf der App nachverfolgen, ging es darum, Alice zu helfen, in ein Big-Brother-System des Jahres 2030 einzudringen und dort ein paar Daten zu manipulieren. Das sollte wiederum Alice’ Schwester zu einem besseren Rang in diesem allmächtigen Überwachungssystem verhelfen.
Klar war also: Die Zukunft ist düster, alles wird kontrolliert und auch zentral gesteuert. Aber die Schlauen sitzen im Theater beziehungsweise vor ihren Handys und können zumindest einige individuelle Korrekturen vornehmen. Boah!
Ein solide gebautes Herrschaftssystem hätte wahrscheinlich auch eine Subroutine entwickelt, die Dissidenten aufspürt und sie zur Verbesserung des Systems einsetzt. Im aktuellen Kapitalismus klappt das prächtig: siehe Hacker, die als Silicon-Valley-Millionäre oder Underground-Heroen von der Mainstreamkultur aufgesogen werden. Ganz so zentral, mit nur einem einzigen Hauptspeicher, wie es „Customerzombification“ suggeriert, wäre das böse System 2030 wahrscheinlich auch nicht konfiguriert. Aber gut, Theater ist auch Vereinfachungskunst.
Der Hauptteil des Spiels besteht schließlich darin, Alice mithilfe diverser Werkzeuge durch allerlei Türen und Tore zu geleiten. Wer in den Genuss des Youtube-Streams kam, konnte sie dabei sehen, hören und auch mit ihr chatten. Wer nur auf der App-Ebene dabei war, durfte immerhin einige Entscheidungen treffen, bekam mal einen Newsfeed ab und sendete ansonsten seine eigenen Posts in ein digitales Nirgendwo.
Das hatte durchaus dystopische Züge. Die Pannensituation war eine Art Negativbeweis dafür, was am Theater – und auch am smartifizierten Theater – reizvoll ist: der Kontakt mit anderen Menschen in einer Spielsituation, sei es eher passiv-konsumierend im physisch realen Theatersaal oder interagierend im digitalen Nähe- und Distanzraum. Allein vorm Smartphone zu hängen und im ewig wirkenden Takt von ein paar Minuten simple Entscheidungen über Werkzeuge, Türen oder Energieversorgung zu treffen, ist hingegen öde.
Ein sachgerechtes Urteil über „Customerzombification“ lässt sich damit freilich auch nicht fällen. Nur ein Teil der Vorstellung war schließlich zugänglich. Technische Fehler können immer geschehen, das Subgenre ist jung. Und jedes Haus, jede Gruppe, die neue Tools nutzt, trägt dazu bei, den Lockdown etwas weniger düster erscheinen zu lassen. //