Theater der Zeit

I. EINLEITUNG

2. Ariadne und der Mythos

2.1 Ariadne als mythologische Oper

von Charlotte Wegen

Erschienen in: Recherchen 163: Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion – Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (05/2022)

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Die dezidierte Konkretion, mit der die Ariadne Hofmannsthals auf ihren Hypotext, den Ariadne-Mythos verweist, beschreibt sie nicht nur formal als »mythologische Oper[n]«33, in deren »›gefährliche[n]‹ Gefilde der angestammten heroisch-mythologischen Oper mit ihren starren Typen und Idiomen«34 sich Hofmannsthal begeben hatte. Vielmehr verdeutlicht sie auch den Rückgriff auf mythische Topoi als moderne Verfahrenstechnik der Re,- Ent- und Neumythisierung antiker Stoffe.35 Hierfür sei das Gesamtwerk des ›mythischen Dichters‹ Hugo von Hofmannsthal beispielgebend, dessen Antikerezeption zunächst im Zeichen ästhetizistischer Kleinformen wie lyrische Szenen und Einakter gestanden habe (Fragment Die Bacchen des Euripides 1892, Idylle 1893, Alkestis 1893), dieser am lyrischen Drama orientierte Formtypus dann aber nach 1900 von einer monumentalen, expressiven Bühnendichtung abgelöst worden sei (Elektra 1903, Ödipus und die Sphinx 1906, Übersetzung des König Ödipus 1910), um schließlich und in Zusammenarbeit mit Richard Strauss antike Stoffe ins Genre der mythologisierenden Oper zu kleiden (Ariadne auf Naxos 1912/16, Szenarium Danae oder die Vernunftheirat 1919, Die ägyptische Helena 1928).36 Dabei wird der Ariadne-Topos, dessen mythischer Stoff »unter den zahllosen Opern des 17. und 18. Jahrhunderts« in »mehr als vierzig« Werken Behandlung erfährt37 und damit »mit der Geschichte der Oper aufs engste verknüpft«38 ist, bei Hofmannsthal nicht nach dem gängigen Muster des 19. Jahrhunderts behandelt, vielmehr komplementiert er mit der sublimen Begegnung zwischen Ariadne und Dionysos bzw. Bacchus jene melodramatische Repräsentationsform des Mythos39, welche sich mit der Uraufführung von Georg Bendas Duodrama Ariadne auf Naxos mit Text von Johann Christian Brandes 1775 in Gotha im deutschsprachigen Raum etabliert hatte.40 Mit seiner Ariadne, deren »im Textbuch gegebene Bezeichnung Duo-Drama« kaum gerechtfertigt sei, »da im ersten Teile nur Theseus, im zweiten nur Ariadne spricht«41, hatte Brandes einerseits eine neue Gattung ins Leben gerufen42 und andererseits den klassischen Mythos Ariadne als mythologische Oper in die melodramatisch redigierte Gestalt eines einzigen Klageliedes umgewandelt, das nicht länger Theseus’ Fortgang von Ariadne, sein achtloses Zurücklassen der Geliebten auf einer Insel zu seinem Thema macht, sondern um den Schmerz einer verlassenen Frauenfigur kreist. Hier weiß sich Ariadne in ihrer Trauer nicht anders zu helfen, als suizidal vom Felsen ins Meer zu stürzen: »Es ist nicht die Geschichte einer Ariadne, die wir in dem Melodram vernehmen sollten, […] es ist die Verzweiflung einer zärtlich Liebenden, die wir mit ihr empfinden wollen.«43 Jene Modifikation des Mythos scheint bei Hofmannsthal durch die Wiedereinführung des erlösenden Moments – das Erscheinen von Dionysos bzw. Bacchus auf der Insel Naxos – aufgehoben und damit die (zweifelhafte) Apotheose des göttlichen Paares im weitesten Sinne rehabilitiert. Das von Hofmannsthal angewandte Verfahren in Ariadne ließe sich also als eines der Revision beschreiben, das die Vermählung von Ariadne und Dionysos, die sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts überwiegend ironisch kommentiert sieht44, wiederherstellt.45 So ziele das Formexperiment der Verbindung der beiden Genres bei Hofmannsthal und Strauss »auf mehr [ab] als die parodistische Brechung des Seriösen durch das Komische«.46 Wie aber ist diesem »mehr«, wie Theresia Birkenhauer es nennt, auf die Spur zu kommen?

Hofmannsthals Ariadne wird von einer Denkfigur bestimmt, die sich ausdrücklich mit dem Motiv der Verwandlung befasst47 und deren Gehalt nicht nur von einem spezifischen Antiken- und Mythenverständnis bei Hofmannsthal, sondern auch von einer dezidierten Auseinandersetzung des Autors mit der Gegenwart zeugen könnte: »Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.«48

Diese Spiegelmetapher Hofmannsthals – sofern sie als ein Streben des Autors nach Verwandlung des Bestehenden im Sinne einer Abwertung der Gegenwart gedeutet werden kann – ist bzw. wäre in dieser Interpretation auf einen »kulturkritische[n] Impuls[e]« zurückführen: »Was die Gegenwart bestimmt, ist ›unrein‹ und soll durch die retrospektive Bezugnahme auf eine frühere Epoche verwandelt und geläutert werden.«49 Die Rekonstruktion dieses mutmaßlichen Strebens nach Verwandlung einer wohl ungenügenden Gegenwart soll in der Beschäftigung mit Hofmannsthal nicht erfolgen, stattdessen muss für die vorliegende Untersuchung zunächst die Bemerkung ausreichen, dass die mythologische Welt von Ariadne, die in der Tat mehr als ein Formexperiment anstrebt, ihre Sprengkraft auf andere bzw. weitere Weise als über etwa Persiflage, Parodie oder Verwandlung entfaltet: So bringt das spezifische Arrangement gegenläufiger Bewegungen bei Hofmannsthal eine Brechung des Sublimen durch das Profane hervor, eine Brechung, die die Art und Weise, wie die Oper unterschwellig funktioniert, ablesbar macht und die im Laufe dieser Arbeit herausgeschält werden soll.

33 So hat Hofmannsthal selbst in seinen Anmerkungen zu Die Ägyptische Helena geschrieben: »Es sind die Kunstmittel des lyrischen Dramas, und sie scheinen mir die einzigen, durch welche die Atmosphäre der Gegenwart ausgedrückt werden kann. Denn wenn sie etwas ist, diese Gegenwart, so ist sie mythisch – ich weiß keinen anderen Ausdruck für eine Existenz, die sich vor so ungeheuren Horizonten vollzieht – für dieses Umgebensein mit Jahrtausenden, für dies Hereinfluten von Orient und Okzident in unser Ich, für diese ungeheure innere Weite, diese rasenden inneren Spannungen, dieses Hier und Anderswo, das die Signatur unseres Lebens ist. Es ist nicht möglich, dies in bürgerlichen Dialogen aufzufangen. Machen wir mythologische Opern, es ist die wahrste aller Formen.« SW XXXI, S. 227.

34 Schlötterer, Reinhold: »›Eigentlich-Poetisches‹ und ›der Musik vorgewaltet‹. Hugo von Hofmannsthals ›Ariadne auf Naxos‹ als Dichtung für die Musik von Richard Strauss«, in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 15 (2007), S. 259 – 280, hier: S. 260.

35 Eine Beschreibung des Mythosverständnisses im Kontext verschiedener Werke und Epochen liefert Christian Horn, der den rezeptionsgeschichtlichen Wandel des »Antikendramas« u. a. anhand von Ariadne auf Naxos zu veranschaulichen versucht. In seiner Dissertation wird die Ariadne-Oper von Strauss/Hofmannsthal dem Antikendrama zugeordnet, jenem Genre, das als neuzeitliche Gattung in den Komplex der antikisierenden Dichtungen gehöre und seit dem 17. Jahrhundert eine wirkungsmächtige Tradition der Anverwandlung von antiken Stoffen begründe. Siehe Horn, Christian: Remythisierung und Entmythisierung. Deutschsprachige Antikendramen der klassischen Moderne, Karlsruhe 2008, zugl. Diss. Univ. Karlsruhe 2007, hier: S. 1 – 7. Im Zusammenhang von Hofmannsthals »mythologischen Opern« bzw. seinen Umschreibungen wie »Symbol « oder das »Mythische« macht sich Paul Stefanek dafür stark, diese Versuche, sich gegen den analytischen Geist und den Kritizismus der Zeit zu wenden, »als quasi theoretische Selbstlegitimation des Künstlers« anzusehen, deren Kritik deshalb auch borniert erscheine. »Denn auch in derartigen programmatischen Wendungen wehrt sich Kunst gegen die Vereinnahmung durch die operationale Vernunft.« So seien sie als Einspruch zunächst schlichtweg hinzunehmen und erst am Werk selbst sei darzutun, ob die darin sedimentierte Intention bestätigt oder verworfen werden sollte. Vgl. Stefanek, Paul: »Überlegungen zu Hofmannsthals Theaterästhetik«, in: Hofmannsthal und das Theater. Die Vorträge des Hofmannsthal Symposiums Wien 1979, hrsg. v. Wolfram Mauser (= Hofmannsthal Forschungen Bd. 6), Wien 1981, S. 187 – 196, hier: S. 195.

36 Vgl. Horn: Remythisierung und Entmythisierung, S. 6.

37 Vgl. Gier, Albert: »›Die unbegreiflichen Verwandlungen‹. Zerbinetta (Richard Strauss, Ariadne auf Naxos)«, in: Opern und Opernfiguren. Festschrift für Joachim Herz, hrsg. v. Ursula und Ulrich Müller (= Wort und Musik. Salzburger Akademische Beiträge Bd. 2), Anif/Salzburg 1989, S. 353 – 359, hier: S. 353.

38 Birkenhauer, Theresia: »Mythenkorrektur als Öffnung des theatralischen Raums: Ariadne auf Naxos«, in: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, hrsg. v. Martin Vöhler und Bernd Seidensticker (= spectrum Literaturwissenschaft, Komparatistische Studien Bd. 3), Berlin/New York 2005, S. 263 – 277, hier: S. 264. So sei Claudio Monteverdis Arianna (1608) die früheste in der Operngeschichte bekannte Barockoper, welche zugleich die Verbindung zwischen Ariadne-Mythos und der Geschichte der Oper begründe. Vgl. ebd. Ähnliches lässt sich bei Renate Schlesier finden: »Mit C. Monteverdis 1608 am Hof von Mantua uraufgeführter L’Arianna wird jedoch die verlassene A. [Ariadne, Anm. C.W.] zu einer zentralen Figur der Operngeschichte.« Schlesier: »Ariadne«, S. 147. Einen umfassenden Überblick zum Ariadne-Stoff in der deutschen Oper bietet die Dissertation von Nicolai, Paul: Der Ariadne-Stoff in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Oper. Eine musikkritische Betrachtung nebst einer Zusammenstellung von sämtlichen musikalischen Ariadne-Werken der Welt, Diss. Univ. Rostock, Viersen 1919.

39 In ihrem Aufsatz stellt Birkenhauer zur ›revisionistischen‹ Unternehmung Hofmannsthals, das Opernwerk Ariadne auf Naxos hinsichtlich seines mythologischen Gehalts nicht bloß auf eine klagende Ariadne im Sinne der melodramatischen Gattungstradition zu verkürzen, Folgendes fest: »Zwar betitelt er die Oper wie das Melodram von Brandes, als Ariadne auf Naxos, führt aber die zweite Hälfte des Mythos wieder ein. Statt mit dem Tod der melodramatischen Heroine endet die neue Oper wie die alte: mit der Allegorie der Erlösung der trauernden Ariadne durch Dionysos.« Birkenhauer: »Mythenkorrektur als Öffnung des theatralischen Raums: Ariadne auf Naxos«, S. 266.

40 Vgl. Nicolai: Der Ariadne-Stoff in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Oper, S. 19. So habe dem Dichter als Unterlage die Kantate Ariadne auf Naxos von H. W. v. Gerstenberg (1760) mit Musik von F. Reichardt (1779) gedient. Vgl. ebd., S. 20.

41 Vgl. ebd., S. 19.

42 Die neu begründete Gattungstradition des Melodrams wird allen voran von Johann Gottfried Herder kritisch kommentiert, wenn er sich auf die Kantate Ariadne auf Naxos Gerstenbergs bezieht: »Nur die verlassene Ariadne, diese aber in allen Wendungen, ihrer Empfindung, lässet sie hören. Fröhlich begrüßend Aurora, erwacht die in Theseus Arm Entschlafene; sie ahnt keine Verlassung. Um ihres Geliebten Leben besorgt, ist sie nur in ihm lebend. Schrecklich reißt die Dreade der Insel den täuschenden Schleier von ihren Augen: ›Er ist auf ewig dir entflohn!‹ und bahnet damit in rührenden Uebergängen jedem Ausbruch des Entsetzens, des Schreckens, der Erinnerung voriger Liebe, der Verwünschung, der Reue, des inneren Vorwurfs, endlich der Verzweiflung, den offenen Weg. Wo soll die Unglückliche hin, da die Dreade selbst sie auf ihrem Felsen nicht duldet? Keine Zuflucht ist ihr übrig, als in den Wellen […] Wenn nun aber ein Schauspieler diesen Anfang ergriff und ein sogenanntes Monodrama mit gleichem Schlusse daraus machte, wie anders! Nichts als eine Verlassene in all ihren Klagen zu hören, zuletzt eine Verzweifelte zu sehen, die vom Felsen hinab einen halsbrechenden Sprung thun muß, wäre dies ein Drama? Ein Monodrama ists. Ein Monodrama!« Herder, Johann Gottfried: [Ariadne-Libera. Ein Melodram. 1802], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 28, hrsg. v. Carl Redlich, Berlin 1884, S. 306 – 328, hier: S. 309 f.

43 Nicolai: Der Ariadne-Stoff in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Oper, S. 22.

44 Siehe dazu beispielsweise die heitere Oper Scaramuccia auf Naxos von Franz Blei, die – ebenfalls die Tradition der Commedia dell’Arte zitierend – Bezug auf den klassischen Ariadne-Mythos samt seiner Begegnung zwischen Ariadne und Dionysos nimmt. So handelt die Oper vom mittellosen Scaramuccia, wie er sich zusammen mit seinem Gefolge (u. a. Colombina, die in seinem Dienst steht] auf die Reise nach Naxos begibt, um den Star Ariadne [»sie hat die Hauptsach: den Skandal«] zu besuchen. Sie soll als letzte Rettung einen Kontrakt mit seinem Theater unterschreiben. Statt allerdings von einer trauernden Ariadne in Empfang genommen zu werden, findet Scaramuccia diese ›bloß‹ im Liebesglück mit Dionysos vor. Zum Festzug lässt Blei seinen Scaramuccia dann sagen: »Ariadne? Zu der Musik? / Die macht der Richard Strauss mir besser.« Vgl. Blei, Franz: [Scaramuccia auf Naxos. Eine heitere Oper], in: ders. Vermischte Schriften, Bd. 4, München/Leipzig 1911, S. 323 – 354, hier: S. 327 und S. 345.

45 Mythische Würde komme dabei aber allein dem unmöglichen Paar Theseus – Ariadne zu. Vgl. Birkenhauer: »Mythenkorrektur als Öffnung des theatralischen Raums: Ariadne auf Naxos«, S. 266.

46 Vgl. ebd., S. 268.

47 So Hofmannsthal in einem Brief an Strauss: »Sie fragen mich, was es mit der Verwandlung auf sich hat, die Ariadne in Bacchus’ Armen erfährt, denn Sie fühlen: hier ist der Lebenspunkt, nicht bloß für Ariadne und Bacchus, sondern für das Ganze.« SW XXIV, S. 204.

48 SW XXXVII, S. 34.

49 Horn: Remythisierung und Entmythisierung, S. 75.

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