Gute Reise!
Vorwort
von Marie Henrion, Andreas Hillger und Ilja Fontaine
Erschienen in: An der Erde hängt der Mensch und an ihm der Himmel – Nico and the Navigators (11/2013)
Am Dessauer Friedensplatz findet sich – direkt gegenüber dem Bühneneingang des Anhaltischen Theaters – ein leer stehendes Haus, in dessen Erdgeschossfenster bis zum heutigen Tag ein Plakat klebt. Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten wirbt es dort für eine Inszenierung, die längst Legende ist, und die auf der Website von Nico and the Navigators mittlerweile Platz 143 in der Chronik der laufenden Ereignisse einnimmt: „GangVorDenk“ steht in schlichtem Schwarzweiß auf dem hohen, schmalen Zet- tel, den man gewissermaßen als Gründungsurkunde einer der erfolgreichsten freien Theatergruppen Deutsch- lands verstehen darf. Denn auch wenn damals von den Navigators noch keine Rede war, formulierte Nicola Hümpel bereits im Programmheft zu dieser ersten Arbeit am Bauhaus Dessau Sätze, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben: „In einem Bewegungstraining untersuchen wir Zusammenhänge von Bewegungs- und Ge- dankenabläufen. Wann entsteht eine Idee? In einer symbolisch nicht eindeutigen Form formulieren wir Sätze, die in unserer Sprache keinen Platz finden. ... Alle Vorstellungen haben dieselbe Struktur, werden sich aber gänzlich voneinander unterscheiden, da der Hauptbestandteil der Arbeit Improvisation ist. Jeder geht seinen Weg.“
Seit diesem Manifest ist viel geschehen, wovon man in diesen frühen Tagen nicht zu träumen – geschweige denn zu denken – gewagt hätte. Und doch liest sich die unbesiegbare Inschrift in dem leeren Fenster wie eine positive Prophezeiung für den langen Weg ins Hier und Heute. „DenkVorGang“, wie sich das Projekt mit ers- tem Namen nannte und aus dem Jahre später die Reihe „KlangZuGang“ erwachsen sollte, war der erste Schritt einer langen Reise, die zunächst vom Bauhaus Dessau in die Sophiensæle Berlin und von dort in die weite Welt geführt hat. Nico and the Navigators haben sich Festivals und große Bühnen erobert, haben mit internationalen Partnern koproduziert und unabhängig von der Struktur des Ensembles unterrichtet und produziert. Sie sind stilbildend geworden, haben Fortschreibungen erfahren, Preise gewonnen und europaweit eine treue Fangemeinde gefunden – und sind sich in diesem Wandel stets treu geblieben. Ihre Grand Tour, die für Nicola Hümpel, Oliver Proske und ihre wechselnden Mitstreiter ja auch einen großen Teil ihrer Lebensläufe darstellt, soll auf den fol- genden Seiten gewürdigt werden.
Wenn das Wort im Deutschen nicht so eine vergissmein- nichthafte Süßlichkeit entfalten würde, könnte man „An der Erde hängt der Mensch und an ihm der Himmel“ als eine Art Poesiealbum beschreiben, in dem Weggefährten und Ermöglicher, Beobachter und Bewunderer von ihren Erfahrungen mit Nico and the Navigators erzählen. In jedem Falle aber soll dieser Band ein Bilderbuch sein, der dem grandiosen Bildertheater von Hümpel, Proske & Co. gerecht zu werden versucht. Ein Atlas für die Navi- gatoren, dessen Windrose sich an jenem unscheinbaren, aber eben auch unverwüstlichen Plakat mit der Aufschrift „GangVorDenk“ ausrichtet, das ein deutsches Stadtthea- ter aus gutem Grund von der anderen Straßenseite grüßt. Auf geht’s – und gute Reise!
Andreas Hillger, Marie Henrion und Ilja Fontaine
Berlin im Oktober 2013