Was lange gärt
von Anne Fritsch
Erschienen in: Theater unser – Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen (04/2022)
Die Streitereien, die ausbrachen, als Christian Stückl 1990 begann, die Spiele zu reformieren, waren nicht aus dem Nichts gekommen. Über Jahrzehnte hatten die Konflikte gegärt, bevor sie schließlich offen ausgetragen wurden. Es ging um das Festhalten am Bestehenden versus Veränderung, das Konservieren einer etablierten Inszenierung versus Neuerfindung der Tradition. Denn wo der Regisseur Stückl die Passion wie einen klassischen Theatertext behandelt, scheint es vorher vor allem darum gegangen zu sein, das einmal Entstandene zu bewahren.
Über die Inszenierungspraxis der ersten Jahrhunderte ist nicht viel bekannt, auf das man sich beziehen könnte. Der größte Einschnitt fand 1860 statt, als eine neue Textfassung des Pfarrers Joseph Alois Daisenberger eingeführt wurde. Diese setzte auf Idealisierung und Psychologisierung und arbeitete die Dramatik der Ereignisse heraus. „Seine dramatische Konzeption [beruht] auf den Kontrasten […] zwischen Jesus und seinen Anhängern auf der einen Seite und den bösartigen jüdischen Gegnern auf der anderen Seite.“29 Um die Konflikte zuzuspitzen, wurden die jüdischen Händler im Tempel zu negativen Handlungstreibern, einiges wurde recht frei zur Vorlage dazugedichtet. Im Sinne der Dramatik, aber auch im Sinne einer antijüdischen Stimmungsmache. Über die folgenden Jahrzehnte erlangte dieser Text einen Status des Unantastbaren, als wäre er selbst das Evangelium. Der textimmanente Antijudaismus wurde...