Alle zehn Jahre hören die Menschen in einem Dorf in Oberbayern für eineinhalb Jahre auf, sich die Haare zu schneiden. Sie tun das, um die Kreuzigung Christi nachzuspielen. Das machen sie seit beinahe 400 Jahren. Was einigermaßen kauzig klingt, ist ein Ereignis von überregionalem Interesse und seit 2014 sogar „immaterielles Kulturerbe“: die Oberammergauer Passionsspiele. Fast eine halbe Million Menschen pilgern im Passionsjahr aus aller Welt ins Voralpenland, um sich dieses Spektakel anzuschauen. Und diese Spiele sind keineswegs eine in die Jahre gekommene Angelegenheit: Die Besetzung 2022 ist die jüngste in der Geschichte, die Motivation im Ort größer denn je. Als ich das erste Mal hörte, dass es in einem Dorf namens Oberammergau ein Passionsspiel gibt, war ich elf Jahre alt. …
In Oberammergau wächst man von klein auf hinein in die Passion. Die Kinder im Ort spielen nicht nur bei den Erwachsenen mit, sie erarbeiten darüber hinaus selbständig ihre eigenen kleinen Passionsspiele, die sie im Sommer des Passionsjahres aufführen. Theaterspielen ist im Ort ein strukturgebendes Ereignis. „Die Passion bestimmt den Rhythmus des Lebens des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Die Lebensabschnitte werden durch die Spieltermine markiert“, schrieb Josef Georg Ziegler 2000. „Wer als Kind beim Einzug in Jerusalem auf dem Arm seiner großen Schwester den Palmwedel geschwungen hat, darf das nächste Mal vielleicht schon als Statist in den Lebenden Bildern dabei sein, bis der Greis als ‚Brustklopfer unter dem Kreuz‘ Abschied nimmt.“10 Leben im Rhythmus der Passion Das Mitspielen ist beinahe Ehrensache. …