Die Platanen
Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)
Ein getrockneter Ast, groß wie ein Gehstock, fällt mir vor die Füße. Ich blicke hoch. Der Wind streichelt sanft die mächtige Platane im Garten des Gorki und raucht die andere Hälfte meiner Zigarette. Wann war das? War es dunkel? Kalt? Winter? Sommer? Sonnenwende? Ich weiß es nicht mehr.
Ich denke: Wie alt ist dieser Baum? Wie lange steht er schon hier? Wie oft lässt er seine getrockneten Äste runterfallen und sagt: Guckt mich an, hier bin ich!
Dann denke ich an die Platane, die über Nâzım Hikmets Grab auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau wacht. Daran, wie ich von der Rinde der Platane ein kleines Stück abgebrochen und als Erinnerung mitgenommen habe. Es liegt jetzt auf meinem Tisch und wacht über mich, wenn ich schreibe. Dann an meinen Spaziergang im Moskauer Gorki-Park. An den gleichnamigen US-amerikanischen Film aus den 1980ern, den ich als Kind im Fernsehen geguckt habe. Dann an Helsinki. Warum Helsinki? Weil sie den Film Gorky Park dort gedreht haben? Ich denke daran, wie ich dort Elina besucht habe. Die wunderschöne Elina, die kurz danach an Krebs starb.
Wie kurz ist mein Leben im Vergleich zu dieser alten, weisen Platane im Gorki-Garten. Wie viele Menschen saßen vor mir...