Castorf, durchdekliniert
von Jan Klata
Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)
1988 fuhren mein Vater und ich in einem verrosteten Auto der Marke Polski Fiat durch das nächtliche Ostberlin. Wir hielten am Alexanderplatz. Ich war nie zuvor in Berlin gewesen, aber dank Adolf Hitler, Max Otto von Stierlitz, Iggy Pop und David Bowie hatte mich die Stadt schon seit langem tief beeindruckt. Mitternacht war bereits vorüber und die ganze Bevölkerung Berlins schien sich ausschließlich aus Uniformträgern zusammenzusetzen. Der Alexanderplatz wurde gerade sorgfältig gereinigt. Ich wusste damals nicht, dass nur wenige hundert Meter entfernt das große Gebäude der Volksbühne steht. War Frank Castorf damals in Berlin? Oder in Karl-Marx-Stadt? Bin ich im Polski Fiat in Frankfurt an der Oder an ihm vorbeigefahren? Ich war fünfzehn, halb Kind, halb erwachsen, eine slawische Puppe vor dem Ausschlüpfen. Im nächsten Jahr sollte sich die Welt jäh verändern, ich aber hatte keine Ahnung, dass so viele Dinge darauf harrten, benannt zu werden. Im Theater. Und dass Castorf dies tun würde.
In jener Nacht war ich im Herzen Ostberlins, selbst angeblich aus dem Osten, aber aus einer Art nahem Osten, einem für Exotik nicht genug östlichen Osten, aus Warschau, nicht aus Moskau, aus dem gleichen Lager, wie behauptet wurde, aber ärmer, (genetisch) oppositioneller, zu Anfällen selbstmörderischer Anarchie...